Berlin/Freiburg: Michael Feller ist als als Sozialarbeiter und Peer für die Belange von Menschen mit Behinderungen tätig, aber nicht nur dort: Eine inklusive Stadtentwicklung liegt im ebenso am Herzen wie politische Partizipation oder eine für alle zugängliche Gesundheitsversorgung. Erst vor kurzem hat er eine neue Stelle als EUTB-Berater im Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Würzburg angetreten. Maria Trümper vom Projekt "CASCO – Vom Case zum Coach“ der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), das 2020 endete, führte mit Michael Feller ein Interview über sein Wirken.
Das Projekt "CASCO“ ist ein vierjähriges Projekt der ISL, das 2020 endete. In dieser Zeit wurden insgesamt 32 Menschen mit Behinderungen zu fachlich qualifizierten Referent*innen für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik ausgebildet. Unter http://www.referenten-mit-behinderung.de/ kann man sie für Veranstaltungen, Seminare und Workshops buchen.
Maria Trümper: Lieber Michael, schön, dass du die Zeit für ein Interview finden konntest! Wie geht es dir? Wie hat sich dein Alltag seit Corona verändert?
Michael Feller: Es geht mir gut. Ich bin aufgeregt, weil ich bald in eine andere Stadt umziehen und einen neuen Job als Berater in der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) im Zentrum „Selbstbestimmt Leben Würzburg e.V.“ (WüSL) angetreten habe. Ja, mein Alltag hat sich seit Corona verändert. Ich habe zwar das Privileg, dass ich vieles von zu Hause aus erledigen kann. Das war zwar auch schon vorher der Fall, aber es hat seit März 2020 definitiv zugenommen. Und ja, meine Bekannten, z. B. vom „Arbeitskreis für Menschen mit und ohne Behinderung e.V.“ (AKBN), treffe ich zumeist online. Durch dieses Format unseres wöchentlichen Treffs haben wir sogar neue Mitglieder gewonnen.
Maria Trümper: Bei allem Leid, den die Pandemie-Lage mit sich bringt – gibt es deiner Meinung nach dem Ganzen auch etwas Positives abzugewinnen?
Michael Feller: Die Entwicklung und Umsetzung von digitalen Veranstaltungsformaten schafft für viele eine höhere Zugänglichkeit zu diesen Angeboten. Es ist für viele Menschen leichter, sich von zu Hause aus in eine Veranstaltung einzuklinken, als allein sieben Stunden für eine Anreise aufzuwenden. Durch die Schaffung von Barrierefreiheit kann eine größere Reichweite erlangt und dadurch mehr Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden. Als Beispiel will ich hier den „European Inclusion Summit 2020“ nennen, der Menschen aus ganz Europa zusammengebracht hat. Dass er weitergeführt werden soll, zeigt, dass Politik von, mit und für Menschen mit Behinderungen an Stellenwert gewinnt.
Maria Trümper: Du bist studierter Sozialarbeiter und lebst mit einer Beeinträchtigung. Daher liegt die Idee nicht fern, dass du auch als Referent und Experte in eigener Sache tätig sein möchtest. Wie bist du zum CASCO-Projekt gekommen und was hat dir gut an der Ausbildung zum CASCO-Referenten gefallen?
Michael Feller: Ich habe den Aufruf im kobinet-Newsletter gelesen und der hörte sich gleich sehr interessant an, weil er meine Interessen bediente. Für mich war die Ausbildung auch ein Weg mit der Selbstvertretungsorganisation „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“ (ISL) in Kontakt zu kommen. Es war schön, so viele Gleichgesinnte auf einem Fleck zu treffen. Die Schulung zum Referenten für menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik war für mich ein Empowerment-Prozess, der mich meine Stärken deutlicher sehen lässt. Die Weiterbildung war damit auch identitätsstiftend. Ich habe gemerkt, dass das ein Bereich ist, in dem ich mich mehr engagieren will.
Maria Trümper: Welche Themen sind als Referent deine Steckenpferde und warum?
Michael Feller: Ich bin gern im Bereich „Netzwerken“ unterwegs. Beim „Netzwerk Inklusion Region Freiburg e.V.“ konnte ich hier sehr viele Erfahrungen machen. Der Verein hat Projekte im Bereich der inklusiven Stadtentwicklung durchgeführt. Hier habe ich auch meine Bachelor-Arbeit geschrieben und fühle mich kundig.
Maria Trümper: In deinem Wirken erwirbst du auch noch mal einen anderen Blick auf die Dinge durch deine Peer-Perspektive. Was ist dein schlagendes Argument, warum überall dort, wo über Behinderung gesprochen wird, auch behinderte Menschen mitreden müssen nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns!“?
Michael Feller: Der Begriff „Peer“ wird ja nicht nur verwendet, wenn es um Themen geht, die Menschen mit Behinderungen betreffen. Der Begriff drückt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit ähnlichem Erfahrungshintergrund aus. Bezogen auf die Frage drückt die Perspektive für mich aus: Behinderte Menschen wissen sehr gut, wie sich einstellungs- und umweltbedingte Barrieren anfühlen, weil sie eben selbst die Erfahrung von Behinderung gemacht haben. Das ist authentisch.
Maria Trümper: Für welches behindertenpolitische Thema brennst du und warum?
Michael Feller: Das Thema barrierefreie Gesundheitsversorgung finde ich sehr entscheidend. Es wird in Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention explizit aufgegriffen. Wir haben ein Forschungsprojekt dazu durchgeführt. In den Befragungen zu den Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen im lokalen Gesundheitsversorgungssystem hat sich vor allem ein Ergebnis bei mir eingebrannt: Viele behinderte Menschen meiden Vorsorgeuntersuchungen, weil sie keine barrierefreien Bedingungen bei den Ärzt*innen vorfinden. Angebote der gesundheitlichen Prävention können also nicht gleichberechtigt umgesetzt werden. Auch so manifestiert sich gesundheitliche Ungleichheit.
Maria Trümper: Und welches weitere soziale Thema sollte in der Zukunft unbedingt weiter debattiert werden und warum?
Michael Feller: Klimawandel ist ein Thema, das alle Menschen auf der ganzen Welt betrifft. Manche Regionen auf der Welt spüren die Auswirkungen stärker als andere. Ich finde zwar, dass das Thema mittlerweile auf dem Beistell-Tischchen steht, aber es müsste - bei der hohen Relevanz - mehr auf den Tisch gebracht werden.
Maria Trümper: Ja, denn der Klimawandel geht uns alle an und vor allem trifft er die marginalisierten Gruppierungen nicht nur als erstes, sondern auch mit Abstand am stärksten. Und das hat jetzt massive Auswirkungen auf die Armuts- und Reichtumsverhältnisse in einer Gesellschaft und auf die Gesundheit.
Michael Feller: "Gesundheit ist nicht alles – aber ohne Gesundheit ist alles nichts“ - Dieser Sinnspruch Arthur Schoppenhauers verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass es einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem geben muss und dass dieses nutzbar ist für alle.
Maria Trümper: Exakt. Wenn wir uns nun auf das Thema Menschenrechte beziehen: Welche Rolle spielen Menschenrechte für dich? Wo erfährst du durch deine Beeinträchtigung Diskriminierung und wirst an der Wahrnehmung deiner Menschenrechte behindert?
Michael Feller: Die CASCO-Fortbildung hat bei mir ein Bewusstsein für die allgemeinen Menschenrechte geschaffen. Dass ich die im privaten umzusetzen versuche, sollte klar sein. Aber auch im Arbeitsalltag spielen sie eine herausragende Bedeutung für mich. Als EUTB-Berater versuche ich mit den Menschen ein Bewusstsein zu entwickeln, dass man kein Bittsteller ist, wenn rechtlich verbriefte Leistungen beantragt werden. Man ist Träger*in von Rechten. Persönlich treffe ich eher auf einstellungsbedingte Barrieren: Manchmal spreche ich bedingt durch meine Beeinträchtigung eher verwaschen oder habe Gangunsicherheiten. Deswegen wurde und werde ich manchmal darauf angesprochen von Menschen, die nicht wissen, dass es Teil meiner Beeinträchtigung ist.
Maria Trümper: Als Sozialarbeiter arbeitest du im Sinne des Tripelmandats, d. h. du arbeitest nicht nur dem Verständnis des Doppelmandats entsprechend im Auftrag des Adressaten und des Staates, sondern auch im Sinne der Ansprüche deiner Profession. Diese meint die Verpflichtung gegenüber und Wahrnehmung von Menschenrechten. Wie versuchst du in der beruflichen Praxis menschenrechtliche Standards umzusetzen? Kannst du ein Beispiel nennen?
Michael Feller: Die Menschenrechte sind Grundstein meiner Tätigkeit als Berater in der EUTB. Die UN-BRK formuliert ja keine „Sonderrechte“ für Menschen mit Behinderung, sondern ist Verdeutlichung, dass Grundrechte auch für Menschen mit Behinderung gelten. Zudem gibt es im Grundgesetz Artikel 3, der eine Benachteiligung wegen Behinderung verbietet. Und dies setze ich um. In diesem Sinne berate ich nach dem Peer-Konzept. Ich nehme die Ratsuchenden an, so wie sie zur Beratung kommen. Ungeachtet ihrer Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Ziel ist die Sicherung oder das Erlangen von gesellschaftlicher Teilhabe und mehr Autonomie. Eben wie es die ratsuchende Person wünscht. Als Beispiel, das leicht verständlich ist und in die Richtung geht: Ein Ratsuchender mit Fluchterfahrung kommt in die Beratung und gibt an, dass er Unterstützung bei der Beschaffung eines Fahrzeugs benötigt. Ungeachtet sprachlicher Barrieren versuche ich die Situation zu erläutern. Das heißt, die Anspruchsvoraussetzungen zu benennen, zu erklären, wie und wo man einen Antrag stellen muss, wie das Verfahren abläuft, was benötigt wird, etc. Das kann dann schon mal länger dauern, aber das ist der Anspruch, den die Menschenrechte an mich haben. Ich kann und will nicht sagen: „Tut mir leid, aber sprachlich verstehe ich Sie wenig und Sie mich ebenfalls. Sie sollten zu einer anderen Beratungsstelle gehen. Diese müssen Sie aber selbst finden“. Die Beratung, meine Unterstützung, muss die Bedarfe, die sich ergeben, berücksichtigen. Bis zum nächsten Termin kann ich die entsprechende Sprache freilich nicht lernen, aber - wenn es der Ratsuchende möchte - könnte ich Beratungsstellen mit entsprechenden Sprachkompetenzen suchen und diese weitergeben. Gerade deshalb ist Vernetzung auch wichtig.
Maria Trümper: Wagen wir zum Schluss den Blick in die Zukunft: Ist eine Veranstaltung, bei der du als Referent eingeladen bist, in den nächsten Monaten geplant?
Michael Feller: Ja, im Juni werde ich bei einem Grundlagenseminar der „Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation e.V.“ (BAR) zu den Kernbotschaften der UN-BRK und des SGB IX aus der Perspektive von Menschen mit Behinderung referieren. Das habe ich in der Vergangenheit schon gemacht, aber ich will den Vortrag nochmal neu aufbauen. Und das Seminar soll virtuell stattfinden – in dem Umfang eine Premiere für mich. Interessant auch, dass „Beteiligung“ im Geist des SGB IX verankert ist – aber nur in §39 SGB IX taucht der Begriff „Partizipation“ ausdrücklich auf. Dort wird der „Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation e.V.“ (BAR) nämlich die Aufgabe gesetzt, Partizipation zu fördern, indem Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen stärker in die Arbeit eingebunden werden.
Maria Trümper: Lieber Michael, herzlichen Dank für deine Zeit und das lnterview, dass die Leser*innen sicherlich bereichtert hat! Und viel Erfolg für deine Arbeit im WüSL! Da wir ja eine CASCO-Interviewreihe sind: Welche*n CASCO-Referent oder Referentin möchtest du für das nächste Interview nominieren und warum?
Michael Feller: Vielen Dank für die interessanten Fragen, die mir auch explizit die Möglichkeit dazu geben, zu reflektieren! Ich möchte gerne Marco Rockert nominieren. Ich habe ihn während unserer Weiterbildung als fröhlichen und sehr positiven Menschen kennengelernt, der für Inklusion und das, was Menschen ausmacht brennt. Wir haben beide einen Workshop beim gleichen Auftraggeber abgehalten – mit wenigen Tagen dazwischen. Dazu habe ich mich mit ihm abgestimmt. Der Kontakt mit ihm war sehr motivierend. Ich wünsche, dass er seine Motivation an andere weitergeben kann.