Ein Monat #9EuroTicket: Menschen mit Behinderungen ziehen Bilanz

PRM Sitz mit Symbolen von Rollstuhl, Kinderwagen und Fahrrad (C) ISL e.V.Berlin, 01. Juli 2022. Vor einem Monat wurde das 9-Euro-Ticket eingeführt. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) zieht als Organisation von behinderten Menschen eine Bilanz.

Vorne weg: Wir sind dafür, dass immer mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel preiswert und umweltbewusst nutzen können und wollen. Was es aber braucht, ist ein Angebot für alle Fahrgäste, auch für Menschen mit Behinderung. Das unschlagbar günstige Ticket, welches jeweils für die Monate Juni, Juli und August in diesem Jahr gelten soll, zeigt schon nach wenigen Tagen die eklatanten Schwachstellen vor allem beim Verkehrsmittel Eisenbahn auf. Schon vor der Einführung ist das öffentliche Verkehrssystem für behinderte Menschen lediglich mit viel organisatorischem Geschick, einer hohen Frustrationsgrenze und persönlicher Selbstbeschneidung durch fehlende Barrierefreiheit, kaputte WCs und andauernd defekte Aufzüge nutzbar gewesen. Wenn alle Menschen so reisen müssten, würde wohl niemand mehr in einen Zug steigen.

Der von der Bundesregierung im Behindertengleichstellungsgesetz definierte Begriff der Barrierefreiheit, also die Nutzung von Verkehrsmitteln ohne fremde Hilfe, ohne Bitte und Danke sagen, ohne Liebfragen von Personal und Mitreisenden, fällt insbesondere Menschen mit Behinderungen nun auf die Füße – denn sie fehlt an allen Ecken und (Bahnsteig-)Kanten. Selbst wenn ein behinderter Mensch den Bahnhof überhaupt barrierefrei erreicht hat: Egal wo hin man schaut – fast überall gibt es Stufen und Spalten zwischen Zug und Plattform, auch im Nahverkehr. Die Bahnsteigkanten sind meistens entweder 20 cm tiefer oder höher als die von den Bundesländern auf Jahrzehnte im Voraus bestellten Züge. Ohne fremde Hilfe hinein- oder wieder herauszukommen, ist unmöglich bis lebensgefährlich sowie im höchsten Maße diskriminierend – gesetzlich abgesegnet und mit behindertenfeindlichen technischen EU-Normen unterfüttert.

Um sich einen Platz mit Rollstuhl, Rollator oder Gehilfe zu sichern, müsste man sich vorher bei der sogenannten Mobilitätsservicezentrale der DB AG (MSZ) anmelden, damit das Zugpersonal der verschiedenen Bahngesellschaften in den unüberschaubaren Menschenmengen zu wissen hat, wo und wann eine Rampe anzulegen oder auszuklappen sei. Nun ist diese Zentrale seit Einführung des beliebten 9-Euro-Tickets für alle betroffenen Menschen schlecht bis gar nicht mehr erreichbar. Lange Warteschleifen am Telefon und verzögerte E-Mailkorrespondenz – mindestens 500 Anfragen pro Tag zusätzlich erreicht das kleine DB-Callcenter in Schwerin. So dauert derzeit eine Anmeldung und Bestätigung für eine einfache Fahrt bis zu einer Woche. Die DB AG hat das Problem auf Nachfrage erkannt. Wann und ob die Kapazitäten allerdings ausgebaut werden, weiß man auch dort nicht. Die Stimmung bei den MSZ-Mitarbeitenden ist gereizt, was am Ende vor allem die sich dort meldenden Kund*innen zu spüren bekommen. Vor Ort am Bahnsteig hilflose Mitarbeitende, die sonst gerne nach besten Kräften behilflich wären, dies aber nicht mehr im Trouble tun können.

Die wenigen Stellplätze, die sich in den immer enger werdenden Mehrzweckabteilen mit Kinderwägen und Fahrrädern zu teilen sind, machen es schlichtweg unmöglich, einen Platz zu ergattern. Kurzfristige Lösungen scheinen rar bis unmöglich. Zugestellte Leitstreifen, die bis zur Zug-Tür führen sollten, sind für seheinschränkte und blinde Menschen jetzt noch schwerer zu finden als ohnehin schon. Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen können übervolle Bahnsteige nicht einfach als Konfrontationstherapie betrachten.

Ein System unter Stress lässt die Solidarität aller Fahrgäste automatisch sinken. Rücksicht auf andere fällt dann schwer, weil alle ein Bedürfnis und das verdammte Recht auf Mobilität haben, das ihnen droht, genommen zu werden. Es darf auch nicht sein, dass Fahrgastgruppen durch das strukturelle Versagen des öffentlichen Verkehrssystems gegenseitig ausgespielt werden.
Ein Verkehrsmittel muss sich nach den Menschen richten -  nicht anders herum.

Wenn die Regierung solch schnelle wichtige Entscheidungen trifft, dann sollte sie dies nicht im Alleingang tun. Aus Kreisen des Verkehrsministeriums scheint diese Entscheidung für das 9-Euro-Ticket ebenfalls keine großen Runden gemacht zu haben und wurde direkt von oben nach unten innerhalb einiger Tage durchdirigiert. Nur fallen behinderte Menschen, wie fast immer, als erstes hinten herunter – und wenn es schief läuft sogar aufs Gleis.

Das 9-Euro-Ticket mit verbleibenden offenen Fragen und Forderungen:

1.    Warum ist es mal wieder nur behinderten und älteren Menschen zuzumuten auf ihre ganz privaten, persönlichen und gesundheitlichen Kosten alle Termine für Job, Praxis, Therapie, Familie und Freizeit für die nächsten Monate abzusagen?

2.    Was tun, wenn alle Plätze für sogenannte Mobilitätseingeschränkte (PRM) bereits belegt sind?

3.    Wie werden vor Ort die eh schon knappen Plätze freigehalten oder in der praktischen Umsetzung vom Bahnpersonal freigemacht?

4.    Wie kann die Beförderung der Fahrgäste mit Mobilitätseinschränkung sofort sichergestellt werden?

5.    Wie können Bereiche im Zug schnellstens entzerrt werden, um alle mitzunehmen?

6.    Wann können Menschen mit Behinderungen in diesem Land endlich Zugfahren wie alle anderen auch – zu jeder Zeit an jedem Ort?