Veronika Mayer kämpft für Inklusion

Veronika MaierMünchen (kobinet) Veronika Maier setzt sich als Inklusionsbotschafterin im Rahmen eines von der Aktion Mensch geförderten und von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) durchgeführten Projektes für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und für Inklusion ein. Dabei weiß die 22Jährige aus eigener Erfahrung, dass dies zum Teil ein harter Kampf ist, der viel Selbstbewusstsein erfordert. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit Veronika Maier, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München katholische Theologie, Skandinavistik und Komparatistik studiert, über ihre Erfahrungen und Aktivitäten.

kobinet-nachrichten: Sie sind als derzeit 22jährige ja förmlich mit dem Begriff der Inklusion aufgewachsen. Was bedeutet das für Ihr bisheriges Leben?

Veronika Maier: Vor allem tatsächlich Kampf. Ich würde mir wünschen, dass ich erbaulicheres zu berichten hätte, doch bisher war Inklusion immer etwas wofür man bitter kämpfen muss. Wenn ich ehrlich bin, ist es das immer noch. Doch für mich und meine Eltern, die in dem Fall immer genannt werden müssen, wäre es etwas gewesen, für das wir nicht kämpfen und über das wir eigentlich auch nicht sprechen müssten. Auffällig war jedoch, wie oft, wie gerne sich gewisse Institutionen mit mir beziehungsweise angeblicher Inklusion gebrüstet haben, während ich dort oft die stärkste Ausgrenzung erfahren habe. Tatsächlich bin ich in meinem "großen Traum von der Inklusion" recht oft desillusioniert worden. Dennoch war es mir seit ich denken kann, ein unerklärliches Bedürfnis darauf zu bestehen, dass es nicht meine Behinderung ist, die das Problem ist. Und ich denke, das bedeutet dieser Begriff nach all den Jahren immer noch für mich: Es sind nicht die Menschen oder ihre Schwierigkeiten, die Dinge kompliziert machen. Es sind die Denkverbote innerhalb einer Gesellschaft.

kobinet-nachrichten: In Ihrem Porträt für das InklusionsbotschafterInnen-Projekt haben Sie betont, dass Inklusion Selbstbewusstsein erfordert. Wie meinen Sie das genau und wie schaffen Sie es selbst, selbstbewusster zu werden?

Veronika Maier: Tatsächlich war das in meinem Fall ein langer Prozess, der Therapie und ein sehr günstiges Umfeld beinhaltete. Viele Beeinträchtigte bekommen nach einiger Zeit das Gefühl, sie müssten für die Hilfe, die sie bekommen, in einer Form bezahlen oder für ihren Umstand "büßen" – manchen wird das sogar wirklich gesagt. Allein wenn wir uns die Beantragungsverfahren ansehen, wird uns oft recht unterschwellig eine Schuld zugeschoben. Auch wenn wir bewusst natürlich wissen, dass uns keinerlei Schuld trifft, schleift es sich irgendwann in unser Denken ein. Es geht darum, diese Schleife der Selbstvorwürfe zu durchbrechen.
Für mich sind es der Kontakt mit Freunden, das Wissen, dass ich akademisch sehr viel erreichen kann und werde – und der Versuch, anderen ebenfalls irgendwie beizustehen, die mir helfen, den Kopf aufrecht zu halten. Denn ich glaube, dass nur Selbstbewusstsein uns dazu bringen kann, unsere Bedürfnisse ruhig aber bestimmt vorzutragen. Und wenn wir Inklusion wollen, dann ist es genau das, was wir tun müssen. Denn woher sollen Nichtbeeinträchtigte denn wissen, was Menschen mit Beeinträchtigungen brauchen? Es fällt uns untereinander ja schon oft schwer, wirklich zu verstehen, was die Anderen brauchen.

kobinet-nachrichten: Die Belange und das Empowerment behinderter Frauen liegt Ihnen besonders am Herzen. Dafür haben Sie im Internet ein Projekt mit dem Titel "Frauenrat" gestartet. Was kann man sich darunter genau vorstellen?

Veronika Maier: Man könnte das Ganze recht banal eine Selbsthilfegruppe nennen, aber in meinen Augen trifft es das nicht wirklich. Der Frauenrat bietet Frauen, die einen Rollstuhl nutzen, einen Raum, in dem sie sich austauschen können. Ich versuche darin möglichst wenig einzugreifen und nicht zu viel vorzugeben. Das ist nämlich genau das, was sehr viele dieser Frauen erlebt haben: Dass sie ob ihrer Behinderung und ihrer Weiblichkeit oft hauptsächlich als das "bedauernswerte Etwas" angesehen werden, dem möglichst viel vorgegeben werden muss. Gerade in ländlichen Gegenden sind es harte Kämpfe, für eine Art von Selbstbestimmung einzustehen. Wenn man ohnehin schon mit Schmerzen und anderen körperlichen Beschwerden zu kämpfen hat, fehlt verständlicher Weise oft die Vehemenz. Deswegen braucht es Räume in die sich kein anderer einmischt. In denen man ungestört klagen, wüten oder auch einfach plaudern kann. Und in denen man immer irgendjemanden antrifft, der Verständnis und tröstende Worte hat. Anfangs hat es mich tatsächlich überrascht, dass sich alle friedlich verhalten haben obwohl es doch sehr viele Unterschiede gibt. Inzwischen glaube ich, dass es eigentlich logisch ist. Immerhin haben wir alle den gleichen Wunsch: Dass wir respektiert werden.

kobinet-nachrichten: Als Studierende haben Sie die Möglichkeit, tiefer in gesellschaftliche Themen einzusteigen und die Dinge kritisch zu betrachten. Welche Herausforderungen sehen Sie denn gerade, wenn wir über das Thema Inklusion reden?

Veronika Maier: In meinen Augen haben wir genau ein Problem mit der Inklusion in Deutschland: Die Leute sind es schlicht nicht gewohnt, dass behinderte Menschen sich offen in der Gesellschaft zeigen. Vor weniger als hundert Jahren verschwanden sehr viele und diejenigen, die das Glück hatten nicht in Euthanisieprogrammen zu enden, lebten in ständiger Gefahr. Da ist ein völliger Rückzug aus der Gesellschaft mehr als logisch. Irgendwie blieb dieses Trauma recht lange in den Köpfen verankert und die Generationen danach haben ja alles darangesetzt, Menschen mit Beeinträchtigungen weiter zu separieren – wenn auch nun ohne Todesgefahr.
Selbst in den 90er Jahren glich es einem Skandal, dass ich nicht in sonderpädagogische Einrichtungen gehen sollte. Die Schule, auf die ich nach der Grundschule eigentlich hätte gehen sollen, riet meinen Eltern, mich eine Stunde weiter in München zu beschulen. Auf „so einer Behindertenschule". Auf dem Weg an Schulen und Kindergärten vorbei rufen Kinder mir heute noch Krüppel hinterher. Wenn wir solche Aussagen mit den Ideen der Inklusion vergleichen, erscheint uns der Weg zu einer absoluten Inklusion unendlich lang – wahrscheinlich ist er das auch noch.

Aber woran liegt das? Ich für meinen Teil habe die Hoffnung, dass es keine Bosheit ist, die Menschen so etwas sagen lässt. Ich denke, es ist eine Art Übersprungsreaktion. Ein Zeichen von Überforderung und von Angst. Menschen finden Menschen, die anders aussehen oder leben, immer komisch. Und wie schon gesagt, woher soll ein Nichtbehinderter denn wissen, wie es sich anfühlt, wenn einem so etwas gesagt wird? Wie soll sich jemand vorstellen können, dass ein Heim mein größter Albtraum ist, wenn er nicht direkt davon "bedroht" ist? Natürlich kann man versuchen, das rational nachzuvollziehen, aber wirklich verstehen ist sehr, sehr schwierig.
Insofern hoffe ich, dass wir eine echte Chance haben, Inklusion weniger herausfordernd und beängstigend für Andere erscheinen zu lassen. Einfach dadurch, dass wir uns zeigen und offen über unsere Wünsche und Ängste sprechen. Dadurch, dass wir uns selbst zum Teil einer Gesellschaft machen.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche frei hätten, welche wären diese?

Veronika Maier: Wünsche zu formulieren, finde ich sehr schwer, aber ich werde es versuchen. Zum einen wünsche ich mir eine bessere Bildungssituation für beeinträchtigte Menschen. Am liebsten so, dass es keine Frage mehr ist, ob ein Kind eine "normale" Schule besuchen darf, sondern schlicht und ergreifend alles dafür getan wird, dass es möglich ist. Einerseits würde das den "Gewöhnungseffekt" mit sich bringen, der in meinen Augen unendlich wichtig ist für eine erfolgreiche Inklusion, und zum anderen würde es die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt bedeutend erhöhen, was ebenfalls ein wichtiger Faktor für eine vollständige Teilhabe ist.
Der andere Wunsch betrifft die Situation während Antragsstellungen: Es gleicht oft mehr einem Gerichtsverfahren oder einer Anklagesituation. Egal, was man beantragt, man ist immer gezwungen, sich zu rechtfertigen. Stets ist es ein Kampf, der oft genug sehr an die Substanz geht. Aber wieso sollte jemand zum Beispiel 24-Stunden Assistenz wollen, wenn er sie nicht braucht. Allein die immense Verwaltung und die finanziellen Nachteile für den Antragssteller sind derart gestaltet, dass sich eine sinnlose Beantragung einfach nicht lohnen würde. Oder was will jemand, der ihn nicht braucht, mit einem Elektrorollstuhl? – Derart ästhetisch sind diese Hilfsmittel nicht, als dass man fürchten muss, sie würden ein neues Modeaccessoire werden.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview und viel Glück bei Ihrem weiteren Wirken.