Nächster Halt - inklusive Beförderung im ÖPNV
Berlin (kobinet) Maria Henschel hat es sich als Inklusionsbotschafterin in einem von der Aktion Mensch geförderten und von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) durchgeführten Modellprojekt zur Aufgabe gemacht, behindertenpolitische Themen juristisch zu beleuchten. Heute hat sich die Juristin im kobinet-Interview vor allem mit der Frage der Beförderung von Nutzer/innen von E-Scootern und E-Rollstühlen im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) auseinandergesetzt.
kobinet-nachrichten: Frau Henschel, Sie haben sich in der Vergangenheit immer wieder zu juristischen Fragen zur Behindertenpolitik geäußert und nun auch ihr 1. juristisches Examen erfolgreich bestanden. Was treibt Sie derzeit in Sachen Rechte behinderter Menschen besonders um?
Maria Henschel: Es heißt immer so schön, dass alles im Fluss, also in Bewegung ist. In Sachen Rechte behinderter Menschen hatte man zuerst das Gefühl, dass sich tatsächlich etwas für die Betroffenen tut, jedoch – wie es Dr. Sigrid Arnade am 5. Mai 2017 bei der Demonstration in Berlin so treffend zusammengefasst hat, wurde nicht etwa eine Verbesserung der Lage durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG), sondern der Erhalt des status quo als Erfolg gefeiert. Dies war ganz sicher nicht das Ziel der zahlreichen Anstrengungen und Proteste.
Traurig genug, dass sich durch das BTHG die Situation in bestimmten Bereichen sogar noch verschärft hat, wie die Möglichkeit der zwangsweisen Einweisung von Menschen mit Behinderung in Heime, um letztlich eine kostengünstigere Versorgung zu erreichen, also ohne jegliche inklusive Intention. Ebenso die Problematik des Ausschlusses von Menschen mit Behinderung von Wahlen, sofern diese Personen unter sog. Betreuung in allen Angelegenheiten stehen. Jedoch scheint sich hier, auch nach Jahren der Auseinandersetzungen endlich etwas zu tun, wie man an den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein erkennen kann. Diese haben den Wahlausschluss auf Landesebene abgeschafft, damit konnten dort die ehemals nicht stimmberechtigten Menschen wählen. In Nordrhein-Westfalen waren dies ca. 22.000 Menschen, die zum ersten Mal ihre Stimme abgeben konnten. Bundesweit sind es ca. 85.000 Menschen, die vom Wahlausschluss betroffen sind. Dies wird sich, wie sich leider gezeigt hat, auf Bundesebene auch erst einmal nicht ändern. Prinzipiell ist zwar die Möglichkeit der Wahlbeteiligung auf Landesebene ein Fortschritt, zumal Betreuung nicht heißt, dass der betreffende Mensch keine eigene Meinung hat oder sich eine solche nicht bilden kann. Aber der Ausschluss von der Bundestagswahl, die im September diesen Jahres ansteht, zeigt, dass dies weder etwas mit Demokratie noch mit Inklusion zu tun hat.
Es gibt natürlich zahlreiche weitere Themen, die hier nur aufgezählt, aber nicht weiter angesprochen werden sollen, wie die Inklusion in konventionellen Schulen, die sich in ihrer jetzigen Form als völlige Überforderung auf allen Seiten herausstellt. Als alarmierend stellt sich der Umgang mit Menschen mit Behinderungen in Pflegeeinrichtungen dar, der, wie wir erfahren mussten, in einigen Einrichtungen respektlos und unwürdig ist. Weiterhin ist die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten ein quasi endloses Thema.
Ein aktuell großes Thema und ein schwieriges Feld sind die Mobilitätsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen im ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr). In Bezug auf die Mobilität zieht sich der Streit nun auch schon über Jahre hin. Auslöser war u.a., dass Menschen mit Behinderungen, die ihr Mobilitätsdefizit mittels eines E-Rollers oder eines E-Scooters oder auch eines E-Rollstuhls ausgleichen müssen, quasi von jetzt auf gleich vor verschlossenen Türen der Busse standen bzw. hinauskomplimentiert wurden, also nicht befördert wurden. Jahrelang war die Mitnahme möglich, doch dann auf Grund eines "Gefahrenberichts" stellen diese Hilfsmittel plötzlich ein Risiko dar. Die Folge ist, dass zum Teil eine Mitnahme kategorisch ausgeschlossen wird und die betreffenden Menschen selbst einen Weg finden müssen, um zu ihrem Ziel zu kommen.
kobinet-nachrichten: Wie sieht es Ihrer Meinung nach derzeit genau in Sachen barrierefreie Beförderung von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Nahverkehr aus?
Maria Henschel: Momentan zeigt sich, dass in Sachen Barrierefreiheit im ÖPNV noch viel Handlungsbedarf besteht, denn Fahrgäste, die einen E-Rolli, E-Scooter oder ein E-Mobil als Mobilitätshilfe benutzen, bedürfen eventuell weiterer Serviceleistungen wie Sicherheitsvorkehrungen in Form von Haltegriffen oder Gurten. Die Installation solcher Vorkehrungen verursacht Kosten und darin liegt sicher mit ein Grund für die Restriktionen. Ebenso schwierig stelle ich mir die Nutzung des ÖPNV für Menschen mit Seheinschränkungen oder Sehverlust vor. Es gibt zwar Apps, die die jeweilige Person durch eine Stadt mittels Sprachsteuerung navigieren, aber ich denke, die Nutzung des ÖPNV stellt eine gewisse Überwindung dar. Menschen, die bezüglich ihrer Sehkraft eingeschränkt sind, müssen schließlich erstmal zum Beispiel in eine U-Bahn einsteigen, also die Tür bedienen, und sich dann sicher positionieren, damit sie nicht bei der Fahrt das Gleichgewicht verlieren. Dazu bietet beispielsweise die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) ein Training an, bei dem Menschen mit Seheinschränkungen lernen sollen, wie sie sich sicher in einer U-Bahn bewegen, usw. Das ist sicherlich schon eine Hilfe. Zusätzlich wäre für Menschen mit Seheinschränkungen eine verlässliche auditive Hilfe praktisch, die ansagt, in welcher Richtung sich zum Beispiel der Ausstieg befindet. Dies ist in Berlin zum Beispiel in U-Bahnen nicht der Fall. Grundsätzlich sollten Ansagen in U-Bahnen laut und verständlich sein. Ebenso wäre eine Ausweitung der taktilen Gestaltung der Bahnsteige, um den Einstieg in eine Bahn zu erleichtern, wünschenswert.
Besonders problembehaftet ist aber, wie schon erwähnt, seit geraumer Zeit vor allem der Umgang mit Fahrgästen, die einen E-Scooter u.ä. benutzen. Dazu ergingen einige Urteile sowie seit März dieses Jahres ein bundeseinheitlicher Erlass.
kobinet-nachrichten: In einigen Städten gibt es Restriktionen, die weit über Einschränkungen bei der Beförderung von E-Scootern hinausgehen. Was halten Sie davon?
Maria Henschel: Es gibt verschiedene Urteile, die sich mit der Pflicht zur Mitnahme von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nebst ihren E-Scootern befassen. Als Zusammenfassung ist festzuhalten, dass sich bereits 2007 gewisse Probleme mit einigen E-Scooter-Modellen herausstellten, jedoch war dies lange kein Anlass, um über mögliche Sicherheitsmaßnahmen zu diskutieren. Das erste Gutachten erfolgte erst im Mai 2014, wobei dieses eine sogenannte Gefahrenstudie darstellte und sich vor allem mit den Risiken und eher beiläufig mit möglichen Sicherheitsvorkehrungen befasste.
Das Problem ist also schon seit geraumer Zeit bekannt, trotzdem wurde kein Handlungsbedarf gesehen. Doch dann erging sehr abrupt ein generelles Verbot seitens der KVB ((Kölner Verkehrsbetriebe), diese beruht auf dem Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen (NRW) vom 15.06.2015, AZ: 13 B 159/15, wonach die Mitnahme von E-Scootern ausgeschlossen wurde. Es folgte dann zwar eine Satzung, welche die Mitnahme unter bestimmten, strengen Bedingungen ermöglichen sollte, jedoch ohne Beachtung, dass diese kaum umsetzbaren Kriterien zu Lasten der betreffenden Fahrgäste führen würde. Zumeist verfügen die Nutzer/innen von E-Scootern nicht über die finanziellen Mittel, um die Mobilitätshilfe umrüsten zu können oder eine andere Mobilitätshilfe zu nutzen. Dazu kommt, dass die Krankenkassen zumeist nur die kostengünstigeren E-Scooter bewilligen und eben keinen teuren E-Rolli.
Dies führte natürlich zu Unverständnis bei den Betroffenen und somit zum Gang vors Gericht, zumal sich nun bundesweit die Beförderung von Menschen mit Mobilitätshilfen sehr restriktiv gestaltete. Hier ergab sich bereits die erste Problematik, nämlich, welches Gericht überhaupt sachlich zuständig ist, ob also das Verwaltungsgericht oder das Zivilgericht angerufen werden muss. Aufhänger war dabei § 22 PbefG (Personenbeförderungsgesetz), wonach eine Verpflichtung zum Abschluss eines Beförderungsvertrags sowie eine unbeschränkte Beförderungspflicht von Menschen mit Behinderungen nebst deren jeweiligen Mobilitätshilfen, zu denen auch E-Scooter zählen, besteht. Zu diskutieren war nun, ob diese Verpflichtung eine öffentlich-rechtliche Daseinsvorsorge darstellt oder ob sie als Verpflichtung an private Unternehmen, also juristischer Personen des Privatrechts, die der Vertragsfreiheit unterliegen, zu werten ist. Das Verwaltungsgericht wäre zuständig, sofern sich das Rechtsverhältnis als öffentlich-rechtlich herausstellt. Dazu müssten die Beteiligten entweder zueinander in einem Über- oder Unterordnungverhältnis stehen, wie es klassisch bei einer Behörde und dem Bürger üblich ist (Bezirksamt o.ä. und eben der Bürger), oder es müsste eine Rechtsnorm geben, die sich einseitig verpflichtend an einen Hoheitsträger, also zum Beispiel an eine Behörde richtet.
Dies ist bei einem Verkehrsunternehmen und den Fahrgästen grundsätzlich nicht der Fall, da zwei private Parteien an diesem Verhältnis beteiligt sind. Es sei denn, eine Partei ist durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes mit öffentlich-rechtlichen Handlungs- oder Entscheidungsbefugnissen ausgestattet und wird gegenüber der anderen Partei als sog. Beliehener tätig. Dies gilt auch dann, wenn die Tätigkeit der juristischen Person des Privatrechts in den Dienst der Daseinsvorsorge des Staates für seine Bürger gestellt ist. Nach Ansicht des Gerichts, (LG Kiel Az 17 O 108/15, 12.08.2016) ist das Verkehrsunternehmen aber keine Beliehene, da keine Durchführung von öffentlichen Aufgaben durch besonderen Beleihungsakt, also durch oder auf Grund eines Gesetzes, vorliegt, sondern das Unternehmen wird lediglich zur Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe in den Dienst genommen.
Damit könnte das privatrechtliche Unternehmen, also die KVG als Verkehrsunternehmen jedoch als Verwaltungshelfer angesehen werden. Die KVG wird zum Verwaltungshelfer, sofern ein privatrechtlicher Vertrag oder ein Verwaltungsvertrag zwischen der Verwaltungsbehörde, beispielsweise dem Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (MBWSV NRW) oder des Landesbetriebs Straßenbau und Verkehr Schleswig-Holstein – Verkehrsministerium und eben der KVG geschlossen würde.
kobinet-nachrichten: Das klingt richtig kompliziert.
Maria Henschel: Ja, das ist es wirklich. Wird allerdings die KVG weder als Beliehener noch als Verwaltungshelfer verstanden, stellt sich die Frage, wie das Verkehrsunternehmen eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge überhaupt übernehmen konnte. Dies wird durch § 8 Abs.4 PBefG beantwortet, der seit 2013 im Gesetz zu finden ist. Danach kommt es auf die "Eigenwirtschaftlichkeit" an, d.h., ein privates Unternehmen erhält den Zuschlag für die Übernahme im Bereich des ÖPNV, sofern es ohne staatliche Subventionen die Aufgabe im Bereich der Daseinsvorsorge, speziell im ÖPNV, übernehmen kann. Die Folge ist die Abgabe von staatlicher Verantwortung im Bereich der ÖPVN, wobei wohl das eigentliche Ziel nicht die Verbesserung des ÖPVN ist, sondern die Möglichkeit, Geld einsparen zu können. Allerdings erhalten die Länder, in deren Zuständigkeit die Realiserung des ÖPNV steht, nach § 1; 2; 5 Abs. 1 – 3 Regionalisierungsgesetz – RegG (Gesetz zur Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs) vom Bund jährlich einen festgesetzten Betrag zur Finanzierung der Daseinsvorsoge. Damit ist es unverständlich, wie einerseits von einem privatrechtlichen Verkehrsunternehmen gesprochen werden kann und anderseits von einer "Eigenwirtschaftlichkeit" dieses Beförderungsunternehmens. Insofern müsste die KVG wenigstens als Beliehener oder zumindest als Verwaltungshelfer gewertet werden und damit wäre die jeweilige Behörde wieder in der Pflicht.
Das Gericht führte aus, dass sich zwar aus § 22 PBefG eine einseitige Verpflichtung des Beförderungsunternehmers zur Beförderung des Fahrgastes ergibt, jedoch sei dies unerheblich, denn eine Streitigkeit zwischen einem Fahrgast und einem privatrechtlich organisierten und tätig werdenden Linienbusunternehmen um die Pflicht, ihn auch mit seinem Elektromobil (E-Scooter) zu befördern, sei zivilrechtlich zu beurteilen. Damit landete die Streitigkeit letztlich vor dem Zivilgericht, ohne dass sich jedoch ein positiver Ausgang für den Kläger ergab.
Die grundsätzliche Mitnahmepflicht aus § 22 PBefG ergibt sich ebenso aus § 145 I 1 SGB 9. Dieser Paragraph soll durch die Möglichkeit unentgeltlicher Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft unterstützen, indem die Mobilität gefördert wird.
Einerseits sollen also die Rechte der Menschen mit Behinderungen gestärkt werden, andererseits findet diese Stärkung ihre Grenzen in der möglichen Verletzung von Rechten Dritter, zum Beispiel wenn die körperliche Unversehrtheit der anderen Fahrgäste in Rede steht. Durch einen umkippenden E-Scooter könnte es zu schwerwiegenden Verletzungen der anderen Fahrgäste kommen. Diese Gefahren lassen sich nach dem Schlussbericht der STUVA (Studiengesellschaft für Tunnel und Verkehrsanlagen e.V.) - anders als bei den Hand-und Elektro-Rollstühlen - nicht durch Sicherungsmaßnahmen beseitigen oder auf ein vertretbares Maß mindern.
Allerdings ist hier eine Differenzierung nötig, denn es gibt E-Scooter, die eher einem motorisierten Roller entsprechen, wie eben jener, der im Februar dieses Jahres in Hamburg nicht mitfahren durfte. Und es gibt Modelle, die zwar auch als E-Scooter bezeichnet werden, aber auch unter Elektromobil oder Seniorenmobil zu finden sind: E-Roller (E-Scooter) wiegen ca. 40 kg und haben zumeist zwei Räder. E-Mobile erbringen ein Leergewicht von bzw. ab ca. 110 kg und haben zumeist vier oder auch drei Räder. Ein E-Rolli wiederum ist deutlich kompakter als ein E-Mobil, hat ebenfalls meist vier Räder und ein Leergewicht ab ca. 90 kg (oder auch weniger) bis 150 kg. Damit ist die pauschale Bezeichnung E-Scooter schon sehr irreführend.
kobinet-nachrichten: Aber eigentlich ging es anfangs doch hauptsächlich um E-Scooter?
Maria Henschel: Ja, das Verbot bezog sich eigentlich auf die sogenannten E-Scooter, also Elektromobile. Die können wegen der größeren Maße und der geringeren Wendigkeit (kein Wenden auf der Stelle) im Vergleich mit Hand- oder Elektro-Rollstühlen die Fläche vor dem Prallbrett nicht erreichen. Sie können deshalb meist nur - und dies ist auch in der Praxis der Regelfall - quer zur Fahrtrichtung auf der großen Sondernutzfläche im Bereich des mittleren Eingangs abgestellt werden. Nach § 11 (4) BefBedV (Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen) gilt aber: "Der Fahrgast hat mitgeführte Sachen so unterzubringen und zu beaufsichtigen, dass die Sicherheit und Ordnung des Betriebs nicht gefährdet und andere Fahrgäste nicht belästigt werden können", wobei das Sitzen des Fahrgastes auf seinem E-Scooter bzw. E-Rolli ebenfalls als Mitführen angesehen wird. Das kann allerdings nicht gewährleistet werden. Auch für die Sicherung von Elektromobilen an diesem Platz gibt es derzeit keine praktikablen und technisch realisierbaren Möglichkeiten. Rückhaltesysteme hierfür sind in den bestehenden Linienfahrzeugen oftmals weder vorhanden noch technisch nachrüstbar.
Das Gericht verneint, dass es für die Busunternehmen eine Pflicht zur Schaffung von Sicherheitsvorkehrungen gäbe, vielmehr sei es die Pflicht der Hersteller von Bussen und E-Scootern, entsprechende Vorkehrungen einzubauen. Auch bedarf es einer bundesweiten Regelung, um die Sicherheit aller Fahrgäste zu gewährleisten. Daher bezog sich das Gericht auch auf § 13 BOKraftG (Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr), wonach "Der Unternehmer und das im Fahrdienst eingesetzte Betriebspersonal nach Maßgabe der Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes verpflichtet [sind], die Beförderung von Personen durchzuführen. Soweit nicht ein Ausschluss von der Beförderungspflicht nach anderen Rechtsvorschriften besteht, können sie die Beförderung ablehnen, wenn Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass die zu befördernde Person eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Betriebs oder für die Fahrgäste darstellt."
Insofern ist natürlich nachvollziehbar, dass es um die Sicherheit aller Fahrgäste geht und somit muss ein Konsens gefunden werden. Dieser kann jedoch nicht zu Lasten einer Gruppe stattfinden, zumal die Bevölkerung allgemein älter wird, womit sich natürlich auch die Mobilitätsfähigkeit verändert und somit die Ansprüche an den Service des ÖPNV. Allerdings ist eine solche potentielle Gefahr maximal bei einem kompakten Modell eines E-Rolli oder Elektromobils vorstellbar, die aber gegebenenfalls durch gewisse Sicherheitsvorkehrungen eingedämmt werden könnte. Ein E-Roller scheint dagegen keine größere Gefahr mit sich zu bringen als zum Beispiel ein Kinderwagen.
Wie so oft, war die erste Reaktion auf das Urteil eine gewisse Kopf – bzw. Organisationslosigkeit. Es wurde nämlich nicht ausreichend über die Konsequenzen oder mögliche Alternativen nachgedacht. Zuerst kam ein pauschales Verbot. Erst auf Drängen der Betroffenen bewegte sich etwas, wenn auch sehr träge und nicht in der erhofften Weise, was symptomatisch ist für den Umgang mit unliebsamen Themen, nicht nur im Bereich der Behindertenpolitik.
kobinet-nachrichten: Was könnte Ihrer Meinung nach getan werden, damit es zu keinen weiteren Einschränkungen bei der barrierefreien Beförderung kommt?
Maria Henschel: Ehe es zum Erlass der bundeseinheitlichen Regelung kam, wurde 2015 eine Mitnahmeregelung für E-Scooter durch die Kieler Verkehrsgesellschaft (KVG) veröffentlicht. Diese sah gewisse Bedingungen vor, unter denen die Mitnahme eines E-Scooters möglich sein sollte, nämlich, dass der E-Scooter nicht länger als 120 cm sein darf und vier Räder haben muss. Desweiteren darf ein Gesamtgewicht von 300 kg nicht überschritten werden. Auch muss der Nutzer bzw. die Nutzerin einen Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen G oder aG sowie eine gültige Wertmarke vorweisen können. Die Behinderung, welche zur eingeschränkten Gehfähigkeit führt, kann auch anderweitig nachgewiesen werden, zum Beispiel durch ein ärztliches Attest. Darüber hinaus muss der Fahrgast in der Lage sein, selbstständig oder mit Hilfe einer Begleitperson den E-Scooter ohne Komplikationen in den Bus, auf die richtige Position im Bus und aus dem Bus wieder heraus zu manövrieren. Weiterhin muss sich der Fahrgast bei drohendem Kippen oder Rutschen des E-Scooters an den vorhandenen Halteeinrichtungen festhalten können. Diese Haltevorrichtungen sind in den Bussen der KVG ab dem Baujahr 2006 serienmäßig vorhanden. Bei Bedarf und auf speziellen Wunsch des Fahrgastes bietet die KVG ein Fahrtraining an. Die Positionierung des E-Scooters im Bus muss in Längsrichtung und rückwärts gegen die Anlehnfläche auf dem gekennzeichneten Platz für Rollstühle erfolgen. Dafür muss genügend Platz im Bus vorhanden sein. Die entsprechenden Stellplätze dürfen ebenfalls nicht bereits belegt sein. Dem Fahrpersonal obliegt jedoch das Letztentscheidungsrecht über die Mitnahme. Dabei kann die Mitnahme im Einzelfall abgelehnt werden, sofern es die Umstände verlangen, was wieder zum Ausgangspunkt der Problematik führt.
kobinet-nachrichten: Nun gibt es aber eine bundesweite Regelung?
Maria Henschel: Ja, mittlerweile wurde, wie gesagt, eine bundeseinheitliche Regelung des Ministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (MBWSV NRW) erlassen. Der Erlass erhält bundesweite Geltung, da dieser im Einvernehmen mit den Verkehrsressorts der übrigen Länder und mit dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur ergangen ist. Der Erlass setzt sich, wie die Gerichte, mit der Frage auseinander, ob es eine Mitnahmepflicht gibt und inwiefern diese mit der Sicherheit der anderen Fahrgäste kollidiert. Als wichtige Erkenntnis ist festzuhalten, dass laut Ministerium "zu berücksichtigen ist (...), dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar." Womit sich die Frage ergibt, in welchem Rahmen und zu wessen Lasten eine mögliche Gefährdung und der Ausschluss der Beförderung hinnehmbar ist. Zumal die Gefahr vor allem durch eine Kipp– und Rutschgefahr der Fahrzeuge bei entsprechenden Fahrmanövern des Busses hervorgerufen wird. Insofern wäre zu fragen, ob nicht durch einen, nach Möglichkeit, gemäßigten Fahrstil, das Gefährdungspotential reduziert werden könnte.
Der Erlass nennt sowohl Standards, welche die ÖPVN-Unternehmen als auch die Hersteller von Mobilitätshilfen einhalten müssen, als auch Anforderungen an die Nutzer/innen der Mobilitätshilfen. Die Anforderungen an die E-Scooter-Hersteller sehen vor, dass in der Bedienungsanleitung ausdrücklich eine Freigabe zur Mitnahme des E-Scooters mit aufsitzender Person in geeigneten Linienbussen des ÖPNV bei rückwärtiger Aufstellung an einem Rollstuhlplatz gemäß Kriterien der STUVA vom 21. Oktober 2016 vorgesehen ist. Die Kriterien entsprechen im Großen und Ganzen der zuvor genannten KVG-Satzung. Daneben bedarf es der Gewährleistung der Standsicherheit durch ein Bremssystem, welches immer auf beide Räder einer Achse zusammen wirkt und nicht durch ein Differential überbrückt werden kann (zum Beispiel gesonderte Feststellbremse). Außerdem bedarf es ausreichender Bodenfreiheit und Steigfähigkeit des E-Scooters, um über eine mit maximal 12 Prozent geneigte Rampe in den Bus ein‐ und ausfahren zu können, ohne mit der Bodenplatte am Übergang von der Rampe ins Fahrzeug anzustoßen. Auch muss der E-Scooter für die Rückwärtseinfahrt in den Linienbus geeignet sein.
Die Linienbusse des ÖPVN müssen als bauliche Prämissen eine Aufstellfläche mit bestimmten Maßen sowie normengerechte Rollstuhlstellplätze mit Rückhalte- bzw. Sicherheitseinrichtungen an der Fahrzeugseitenwand, eine rückwärtige Anlehnfläche sowie eine Haltevorrichtung zum Gang hin aufweisen. Darüber hinaus sollen Busse, welche diese Anforderungen erfüllen, zur vereinfachten Nutzung eine Kennzeichnung erhalten.
kobinet-nachrichten: Welche Anforderungen müssen Nutzer/innen von E-Scootern demnach erfüllen?
Maria Henschel: Für die Nutzer/innen von E-Scootern ergeben sich folgende Anforderungen, die vor allem auf das Merkmal der Selbstständigkeit abgestellt werden. Das heißt, der Fahrgast muss selbstständig die Ein -und Ausfahrt aus dem Bus sowie die Positionierung auf der Stellfläche bewerkstelligen können. Der Erlass sieht zudem vorrangig die Mitnahme von Personen vor, die sowohl über einen Schwerbehindertenausweis als auch mindestens über das Merkzeichen "G" verfügen. Insofern wird der Kreis der potentiellen Fahrgäste in gewisser Weise eingeschränkt, denn Menschen, die nur einen geringen Grad der Schädigung aufweisen, werden nicht berücksichtig. Die Mitnahme ausschließlich auf Grundlage einer ärztlichen Bescheinigung sollte nicht zugelassen werden, um Flächenkonkurrenzen zwischen den E-Scooter-Nutzerinnen und -nutzern und anderen Fahrgästen zu verringern.
Die Beförderungspflicht besteht nicht, wenn der Aufstellplatz für den E-Scooter bereits durch andere Fahrgäste (mit Rollstuhl, anderen E-Scootern, Kinderwagen) oder allgemein durch einen voll besetzten Bus belegt ist. Der E-Scooter darf über keine zusätzlichen Anbauten verfügen, die die rückwärtige Aufstellung unmittelbar an der Anlehnfläche des Rollstuhlplatzes verhindern oder einschränken. Die E-Scooter-Nutzer/innen müssen sowohl die zum Nachweis der personenbezogenen Voraussetzungen als auch der Mitnahmetauglichkeit des E-Scooters erforderlichen Unterlagen mitführen und bei Aufforderung vorzeigen können. Zur Vereinfachung soll ein E-Scooter-Pass bzw. ein Siegel, welches bundesweit gelten soll, eingeführt werden, sowie eine Schulung bzw. Einweisung bezüglich der Ein- und Ausfahrt in den Bus und die ordnungsgemäße Aufstellung am Rollstuhlplatz stattfinden. Diese sind von den Verkehrsunternehmen zu organisieren.
Insgesamt sollen sowohl der neue Erlass als auch die zuvor genannten Normen des SGB und des PBefG ein hohes Schutzniveau sowie den Verbraucherschutz für Menschen mit Behinderungen gewährleisten, wodurch die Freizügigkeit, die Entscheidungsfreiheit und die Nichtdiskriminierung geschützt werden soll. Um zum im Erlass genannten Personenkreis zu gehören, muss eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegen. Dieser Begriff wird in § 146 Abs.1 gesetzlich definiert. Danach gilt als entsprechend beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Die Feststellung der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit setzt die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft voraus. Für die Annahme der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ist die Zuerkennung des Merkmals „G" allein grundsätzlich nicht ausreichend, sondern die Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit muss eine Behinderung sein und diese Behinderung muss das Gehvermögen einschränken, sogenannte doppelte Kausalität (LSG Bln-Bbg Urt. v. 22.4.2015 – L 13 SB 210/12). Aber was genau ist dann unter einer Behinderung zu verstehen? Nach § 2 Abs.1.S. 1 SGB 9 sind Menschen behindert, "wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist".
kobinet-nachrichten: Verbirgt sich dahinter nicht auch eine Altersdiskriminierung?
Maria Henschel: Das Merkmal "dem Lebensalter typischen Zustand abweichend" ist schon schwierig. Bedeutet dies also überspitzt ausgedrückt, dass jemand, der auf Grund seines Alters bzw. auf Grund von Verschleißerscheinungen einer Mobilitätshilfe bedarf, nicht als gehbehindert angesehen wird und somit vor verschlossenen Bustüren stehen würde? Sollte dann nicht, um einer Altersdiskriminierung vorzubeugen, besser die Definition des Art. 1 S.2 der UN-BRK herangezogen werden, wonach "zu den Menschen mit Behinderungen (Menschen) zählen (...), die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können"? Insgesamt bedarf es einer gewissen Anpassung an die Bedürfnisse von Menschen mit Mobilitätseinschränkung. Dies würde auch den Anspruch aus Artikel 9 der UN-Behindertenrechts- konvention sowie § 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes erfüllen, der die Barrierefreiheit von Verkehrsmitteln gewährleisten soll, wozu nicht nur der Zugang, sondern auch die Erfüllung gewisser Mindeststandards gehört. Diesem Anspruch versucht der Erlass in gewisser Weise gerecht zu werden, da anscheinend nun doch neben den Herstellern von Mobilitätshilfen auch die Beförderungsunternehmen selbst in die Pflicht genommen werden sollen.
Zu beachten ist, dass die Bevölkerung nach demographischen Gesichtspunkten immer älter wird, daher werden in Zukunft mehr Menschen auf elektrische Mobilitätshilfen angewiesen sein. Dieser Aspekt sollte in die Überlegungen mit einfließen, denn wir alle werden älter und auch nicht gesünder, zumal bereits ein Unfall ausreichen kann, um in eine Situation zu kommen, in der man auf eine Mobilitätshilfe angewiesen ist.
Im Erlass steht auch, dass die bestehende Beförderungspflicht für Elektrorollstühle unberührt bleibt. Dann wundert es jedoch, dass im Mai dieses Jahres ein Fahrgast mit E-Rolli an der Nutzung der Straßenbahn gehindert wurde. Daran zeigt sich, dass wohl insgesamt die Beförderung von Menschen mit Mobilitätshilfen im Argen liegt. Daher gibt es auch heftige Proteste gegen die Bestellung der neuen S-Bahn-Fahrzeuge in Berlin, die das Gegenteil von inklusiver Beförderung bieten, da der Eingangsbereich sowie der Mehrzweckbereich viel zu klein gestaltet wurde und damit nicht den benötigten Platz für Fahrgäste mit Mobilitätshilfen bietet.
Da nützt es auch nichts, dass die unentgeltliche Beförderung im BTHG in § 228 verankert wurde, wenn es der Gesetzgeber mit der praktischen Umsetzung, im positiven Sinne für Menschen mit Behinderungen, nicht ernst meint. Stattdessen wird versucht, die jeweilige Verantwortung möglichst lange hin und her zu schieben, ähnlich wie bei einem Ping-Pong-Spiel, allerdings mit ungleichen Parteien. Dies sollte nicht hingenommen werden!
kobinet-nachrichten: Herzlichen Dank für das Interview und die intensive Beschäftigung mit diesem komplizierten Thema.
Links zu weiteren kobinet-Interviews mit Maria Henschel
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