Fragezeichen zur Inklusion in Niedersachsen
Hannover: Im Schatten der Berichterstattung über die mittlerweile gescheiterten Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition auf Bundesebene haben die Verhandlungspartner aus SPD und CDU in Niedersachsen die Verhandlungen für eine große Koalition abgeschlossen. Einen Rückschritt bei der bildungspolitischen Inklusion sieht der Sozialverband SoVD in den Beschlüssen dieser großen Koalition in Niedersachsen. Bei den kobinet-nachrichten sind dazu weitere Stellungnahmen eingegangen.
Die von SPD und CDU angekündigte "Verlängerung des Übergangs" bei der bildungspolitischen Inklusion ist nach Ansicht des SoVD ein unnötiges Aufschieben der gleichberechtigten Teilhabe für alle Menschen, wie der SoVD-Landesvorsitzende Adolf Bauer betonte. Dieser Kompromiss sei ein fauler Kompromiss. Der Vorsitzende von Selbst Aktiv, dem Netzwerk behinderter Menschen in der SPD, Karl Finke war bei der Präsentation des Regierungsprogramms von Rot-Schwarz eingeladen und betonte: "Rot-schwarz in Niedersachsen ist besiegelt. Wir von Selbst Aktiv in Niedersachsen haben uns hier in verschiedenen Bereichen stark eingebracht und dies ist auch erkennbar. So ist die Wahlrechtsreform zugunsten behinderter Menschen fester Bestandteil des Regierungsprogramms. Als Vorsitzender von Selbst Aktiv war ich bei der extra einberufenen Pressekonferenz hier anwesend. Das Thema Inklusion war Gegenstand der Runde und wurde von unserem Ministerpräsidenten Stephan Weil auch in seinem eigenen Statement hervorgehoben."
In einer Stellungnahme zur Koalitionsvereinbarung schrieb die niedersächsische Landesbehindertenbeauftragte die Verhandlungsführer u.a. "Als Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen begrüße ich sehr, dass in der Koalitionsvereinbarung Bestrebungen aufgenommen wurden, die Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. So heißt es in der Präambel: '(# 84) Menschen mit Behinderungen sollen in allen Bereichen der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben.' Auch begrüße ich, dass „(#477ff) die schulische Inklusion entsprechend den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fortgeführt wird. Die Einbeziehung der beruflichen Bildung (#468ff) findet ebenfalls meine Zustimmung, wie auch weitere Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK im Koalitionsvertrag. Die Sicherstellung eines einheitlichen Hilfeniveaus (#1328) bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ist Voraussetzung für Teilhabe und daher ebenfalls wichtiger Einsatz der Landesregierung. Sie findet meine Zustimmung, wenn sie bedarfsgerecht ist."
Neben dem Lob nahm die Landesbeauftragte zu einigen Aussagen aber auch kritisch Stellung und formulierte Forderungen an die niedersächsische Landesregierung. So zum Beispiel in Sachen Inklusion beim lebenslangen Lernen. "Bereits zum Schuljahr 2013/2014 hat Niedersachsen die inklusive Schule eingeführt. Dabei wurde der Betrieb von Förderschulen jedoch überwiegend aufrechterhalten." Nun heiße es in der Koalitionsvereinbarung aber "'(#513) Die Koalition wird keine weiteren Förderschulformen abschaffen.' '(#525ff) Den Förderschulen Lernen im Sekundarbereich I kann auf Antrag des Schulträgers und entsprechend des Bedarfs sowie der Nachfrage für eine Übergangszeit bis spätestens 2028 Bestandsschutz gewährt werden. Letztmalig können damit im Schuljahrgang 2022/2023 Schülerinnen und Schüler im 5. Jahrgang eingeschult werden.'" Die Entwicklung der inklusiven Schule werde dadurch durch Zweigleisigkeit gehemmt. Die Aussagen stünden laut Petra Wontorra daher im Widerspruch zur Präambel der Koalitionsvereinbarung. Für den Übergangszeitraum bis zur Umsetzung der Inklusion im Bildungswesen müsse ein Übergangs-Scenario nach Kriterien nach dem SMART-Prinzip entwickelt und verabschiedet werden.
"Ich mahne an, dass der Prozess des inklusiven Bildungssystems zügiger fortgesetzt werden muss. Dies ist eine Forderung des UN-Fachausschusses anlässlich der Staatenberichtsprüfung zur Umsetzung der UN-BRK. Der erweiterte Bestandsschutz der Förderschulen Lernen bis 2028 widerspricht dem inklusiven Gedanken und festigt den Bestand für weitere 10 Jahre! Ich fordere die Koalitionäre auf, ein landesweites Übergangskonzept in dieser Legislaturperiode zu verabschieden und zügig umzusetzen. Die Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren inklusive Schule (RZI) müssen wie geplant ausgebaut und erweitert werden", erklärte Petra Wontorra.
Für die Inklusionsbotschafterin Diana Hömmen ist klar: "Die Ankündigung der großen Koalition einen Kompromiss gefunden zu haben, ist in meinen Augen ein politischer Rückschritt. Die SPD ist vor der CDU eingeknickt, nun kommt die Pause in Sachen Inklusion doch. Eine traurige Schulpolitik geht weiter im Zeichen der CDU, die eine schulische Inklusion von Anfang an ablehnt." Seit Jahren trete sie für eine einheitliche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungswesen auf Bundesebene ein. So wie es jetzt ist, so gehe es nicht weiter, wir schadeten damit unseren Kindern.