Individuelle Pfade der Selbstbestimmung

Jennifer SonntagHalle (kobinet) Teilhabe-Kultur zu leben heißt für die Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag auch, Kunst und Literatur von Menschen mit Behinderungen erlebbar zu machen. Das Magazin "Outscapes" veröffentlichte in seiner jüngsten Ausgabe zwei Beiträge über KünstlerInnen mit Behinderungen, wobei sich die beiden Portraitierten, zu denen auch Jennifer Sonntag gehört, nicht allein über ihre Behinderung definieren. Da die Printausgabe des Kulturmagazins für einige Menschen mit Behinderungen nicht lesbar ist, stellte der Verlag auf Initiative von Jennifer Sonntag den kobinet-nachrichten die elektronischen Textfassungen ungekürzt zur Veröffentlichung zur Verfügung. Ein herzlicher Dank an Tristan Rosenkranz dafür. Nach dem ersten Beitrag vom letzten Sonntag, veröffentlichen wir heute den zweiten Beitrag mit Jennifer Sonntag.

„Individuelle Pfade der Selbstbestimmung“

Jennifer Sonntag, MDR-Moderatorin der „Sonntagsfragen“, langjährige Autorin und mit dem Inklusionspreis ausgezeichnete Inklusionsbotschafterin, veröffentlichte unlängst in der „Edition Outbird“ gemeinsam mit der Illustratorin Franziska Appel das „Seroquälmärchen“. Ein Erwachsenenmärchen, was den depressionsbedingten, stationären Aufenthalt in der Psychiatrie thematisiert und in eine merkwürdig „schwerelose Schmerzform“ bringt. Gründe für ein Interview gibt es auch darüber hinaus mehr als genug:

Jennifer, aufgrund Deiner Erblindung und damit verbundenen Sensibilisierung bist Du schon seit vielen Jahren und auf verschiedenen Ebenen Inklusionsbotschafterin: Du stellst an Prominente und aus Sicht beeinträchtigter Menschen „Sonntagsfragen“ beim MDR, Du steckst viel Herzblut in eine größere Wahrnehmung der Problematik, dass eingeschränkte Menschen allzu oft (noch) auf Alltagshindernisse stoßen, setzt Dich für die Selbststärkung von Menschen mit Behinderung ein, siehst inklusive Sexualität als eines Deiner Herzblutthemen, schreibst Bücher, vertonst mit der Deutschen Zentralbücherei für Blinde Hörbücher…  und hast unlängst obengenanntes Buch veröffentlicht. Woher nimmst Du diese Energie? Was treibt Dich und was strebst Du an?

Als „Outbird“ bringt man sicher häufig eine höhere Energie auf, weil man alternative und kreative Lösungen für das eigene Leben und auch für die Menschen finden muss, für die gängige „Otto-Normalverbraucher-Strategien“ nicht funktionieren. Generell muss ich als blinde Frau an viele Dinge vollkommen anders herangehen und auch in meiner 16-jährigen Tätigkeit als Sozialpädagogin, in der ich mit Menschen arbeitete, die im Laufe ihres Lebens ihr Augenlicht verloren, ging es stets darum, die jeweils passenden inneren Lichtschalter der einzelnen Betroffenen anzuknipsen. Menschen kommen auf sehr unterschiedliche Weise zu ihren „Ansichten“ und Erkenntnissen, „erfassen“ und „begreifen“ verschieden und müssen für sich herausfinden, was für sie stimmig ist.

Aber egal ob blind oder sehend, im Grunde wünsche ich jedem Menschen seine eigenen individuellen Pfade zu finden, die oftmals gewundener, mühsamer und mit mehr Umwegen versehen sind als die geraden Wege. Wer man ist und wo man steht weiß man erst, wenn man sich mal verloren hat, viele Abzweige kennt, auch die brüchigen Straßen, die Wälder am Straßenrand, auch die Tunnel und Sackgassen und Möglichkeiten, wieder herauszufinden. Ich habe glaube ich nicht mehr Energie als andere, aber ich brauche mehr Energie und durch die Reibung am Leben zeigen sich mir sehr viele unbeackerte Landschaften, viele blinde Flecken, die ich beleuchten möchte.

Da das „sich Durchbeißen“ aber auch immer ein Mehraufwand ist und viel Kraft kostet, musste ich lernen, in die andere Schale der Waage Dinge hineinzulegen, die Körper und Geist entspannen. Klingt vielleicht abgedroschen, hat aber gedauert, eh ich das wirklich konnte. Ich bin noch mit dem Leitsatz „Blinde müssen immer zehnmal besser sein als Sehende, um in der Gesellschaft etwas wert zu sein“ aufgewachsen. Das kann schnell zur Überforderung führen, denn man ist ja auch nur ein Mensch. Ich strebe deshalb heute nichts mehr an, was mit den Erwartungen anderer zu tun hat und ich wünsche mir für jeden Menschen den passenden Lebenspullover, in dem er sich echt und frei von schädigenden Glaubenssätzen und den Strickmustern anderer in der Gesellschaft bewegen kann, der respektvolle Umgang miteinander und auch immer ein angemessenes Verantwortungsbewusstsein für sich und andere sei natürlich vorausgesetzt. Es kann unheimlich bereichernd sein, die unterschiedlichen Potenziale ganz verschiedener Menschen zu nutzen und zu leben, wie man es ja auch bei „Outbird“ sieht. Das lenkt dann auch weniger die Aufmerksamkeit auf die vermeintlichen Defizite, die ein Mensch mitbringt.

Besagtes Buch erschien bei „Edition Outbird“ und heißt „Seroquälmärchen“. Was steckt hinter dem ungewöhnlichen Namen? Was ist das Thema und was bewog Dich zu diesem besonderen Buch?

Ich habe einen nicht ganz so leichtfüßigen Schwerpunkt symbolisch in Pastell gehüllt. Mit „Seroquäl“ entschloss ich mich zur Veröffentlichung eines Psychiatriemärchens, welches ich in seiner Form und Thematik bewusst sehr schmal und sinnbildlich gehalten habe. Der Begriff „Seroquäl“ ist dabei als Literarisierung eines Medikamentennamens zu verstehen. Manchmal kämpfen Menschen händeringend um Hilfe und bekommen keine, manchmal bekommen Menschen Hilfe und erleben diese gegen ihre Selbstbestimmung. Das kann sehr quälend sein. Mein Text entstand, als ich Beobachterin dieser Kontraste wurde. Vielleicht können Kunst und Literatur etwas anstoßen, was fachliche Auseinandersetzungen manchmal nicht schaffen. Ich möchte mein modernes Märchen einerseits auf den Weg schicken, um auf mangelnde Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in therapeutischen Einrichtungen aufmerksam zu machen und andererseits für den heiklen Tanz zwischen Stabilisierungsmedikation und Selbstbestimmung zu sensibilisieren. Nicht immer ist dieser Balanceakt leicht für die Ärzte. Mein Märchenbuch ist nicht für Kinder geschrieben und nicht für Menschen in schweren depressiven Episoden geeignet, ich habe es aber trotz oder gerade wegen seines nicht leichten Kontextes mit all meinen Sinnen dem Leben gewidmet. Und ich möchte mich für die Menschen äußern, die es nicht oder nicht mehr können. Das Buch will nicht werten, es will lediglich Denkanstoß sein und ein Bewusstsein für Entscheidungen und die daraus resultierenden Flügelschläge schaffen.

Ich persönlich spreche mich klar für die Aufnahme von Menschen in schweren psychischen Notlagen in therapeutische Einrichtungen aus (eine Behinderung darf hier kein „Handicap“ sein) und auch für die Stabilisierungsmedikation bei schweren depressiven Episoden. Leider habe ich erleben müssen was passierte, wenn Menschen zu früh aufgaben und von dieser Stabilisierung nicht mehr profitieren konnten oder aufgrund ihrer Behinderung von gesundheitlicher Versorgung ausgeschlossen blieben. Als blinder Mensch kann man quasi schon den Strick um den Hals haben und die verantwortlichen Therapieeinrichtungen lehnen einen ab, weil sie sich mit nichtsehenden Patienten überfordert sehen. Die Berührungsängste in den Köpfen des Klinikpersonals sind hier die eigentlichen Barrieren.

Als Inklusionsbotschafterin wünsche ich mir den Zusatz im Portfolio aller Kliniken auch in anderen medizinischen Bereichen, in denen es oft die gleichen Probleme gibt: Wir öffnen uns der Barrierefreiheit und sind für Menschen mit Behinderungen gern Ansprechpartner. Leider ist dies noch alles andere als selbstverständlich und natürlich müssen auch für die Kliniken vertretbare Bedingungen geschaffen werden.

 Die beinahe surrealen, zerbrechlich-zarten Illustrationen fertigte Franziska Appel an, ebenfalls Hallenserin und Trägerin des Inklusionspreises. Wie kam es zu Eurer Zusammenarbeit, was verbindet Euch?

Willst du das wirklich wissen? Das ist nicht ganz jugendfrei! Menschen die etwas miteinander anfangen können erkennen sich glaub ich am Geruch. Darf ich das kurz erklären? Um das Unschöne besser beim Kragen packen zu können, befasse ich mich sehr intensiv mit Schönem und das definiere ich nach meinen Sinnesfreuden. Ich feiere meine Sinnesfreuden und veröffentliche auch erotische Kurzgeschichten. Mit meinem sehenden Partner habe ich erotische Kohle- und Kreidezeichnungen zu unserem Buch „Liebe mit Laufmaschen“ angefertigt. Wie man als blinde Zeichnerin mit einem sehenden Partner auf Papier agiert und mehr zu meinen erotischen „Eskapaden“ findet man auf www.Liebe-mit-Laufmaschen.de. Und hier kommt auch Franziska Appel ins Spiel. Da auch blinde Menschen an erotischen Bilderwelten interessiert sind, hat sie unsere Zeichnungen für die blinden Besucher unserer Homepage wunderbar wortmalerisch beschrieben. Für blinde Menschen Bilder zu beschreiben und dann auch noch erotisch, das ist nicht einfach und es ermöglicht einen wahnsinnig aufregenden Dialog. Aber mit Franzi und mir ist es eine Art magnetische Anziehung und wir passen mit unseren Ideen immer wie ein köstlicher Cocktail zusammen. Sie kann nicht nur super Bilder beschreiben und Texte verfassen, sie ist eine sehr vielseitige Malerin und Zeichnerin und für mein „Seroquälmärchen“ fragte ich sie ob sie sich vorstellen könnte für mich Bilder zu entwickeln, die so oder so ähnlich auch in einer Psychiatrie hätten entstehen können. Wir verstehen uns in dieser Hinsicht blind und Franzis Stifte machen meine Gedanken immer wieder auf beeindruckende Weise sichtbar.

Stichpunkt Depression: Depression ist ja schon für Menschen ohne Behinderung ein schwarzes Monster; wie kann Mensch sich das zuzüglich einer Behinderung vorstellen? Haben es Menschen mit Behinderung ungleich schwerer, sich Selbstvertrauen und Souveränität anzueignen?

Behinderung plus Depression ist tatsächlich ein ungünstiger Doppel-Whopper. Nicht jeder behinderte Mensch erlebt im Laufe seines Lebens eine Depression, aber wie bei jedem anderen Menschen ohne Behinderung auch, kann das natürlich vorkommen. Das ist jedoch leider ein Tabuthema und man erlebt den Behinderten lieber als Optimisten und Frohnatur, der seinem Gegenüber mit einem Lächeln auf den Lippen die Befangenheit und die Berührungsängste nimmt. Betroffene fallen tragischer Weise allzu häufig aus dem System, da dieses nur auf „normale“ Depressionen ausgelegt ist. Ich habe psychiatrisch Tätige z. B. oft sagen hören: „Was soll ich denn mit einem Blinden in der Ergo- oder in der Sporttherapie anfangen? Ich weiß doch gar nicht, was ich mit dem machen soll!“ Diese Ablehnungserfahrungen verbessern natürlich nicht gerade das Selbstwertgefühl des Hilfesuchenden, der vielleicht kürzlich durch einen Unfall sein Augenlicht verlor. Ich arbeitete viele Jahre lang in einem helfenden Beruf und musste später leider auch in einer schwierigen Lebenslage am eigenen Leib erfahren wie es sich anfühlt, auf Hilfe angewiesen zu sein und keine zu bekommen, weil man mit der Blindheit fremdelte. Dann kam immer die Aussage: „Ach Sie sehen gar nichts mehr, überhaupt nichts mehr? Dann können Sie nicht kommen, Sie können sich ja gar nicht zu den einzelnen Therapiestationen orientieren und wir haben kein Personal, was Ihnen die Therapieinhalte erklärt“. Ein Mensch mit Behinderung ist auch nur ein Mensch und er kann, wie jeder andere auch, psychisch erkranken. Dabei muss die Behinderung nicht die Ursache sein, sie wiegt aber schwerer in einer depressiven Episode, wenn ohnehin die Welt um einen herum in schwarz versinkt, dann wird man auch die Blindheit nicht gerade als „Lichtblick“ empfinden. 

Du bist aufgrund einer Krankheit allmählich erblindet. Wie kann man sich das vorstellen, immer weniger bis irgendwann gar nichts mehr sehen zu können? Wie ist es überhaupt möglich, damit umzugehen und den Lebensmut nicht zu verlieren?

Wir alle verarbeiten herausfordernde Lebensveränderungen in Phasen. Am Anfang ist man natürlich schockiert, will das nicht wahr haben, lehnt das ab, verdrängt, rebelliert, zieht sich zurück, ist neidisch auf alle, die noch sehen können, da ist das volle Programm an Gefühlen dabei. In meinen Vorträgen nenne ich das Modell zur Behinderungsverarbeitung „Hinter den sieben Bergen“ und am Ende des Tunnels ist metaphorisch gesprochen immer Licht, wenn man selber will und sich Zeit gibt. In der Mitte der sieben Phasen kommt die Trauerarbeit, die ist ganz wichtig und auch hier muss man den Gefühlen Raum geben, um in die nächsten Phasen übergleiten zu können. Manchmal stagniert das auch oder man überspringt eine Phase, später beginnt man aber zu schauen, wie man sein Leben neu strukturiert und organisiert, welche Potenziale, Menschen, Talente man aus dem Leben davor mitnimmt, man lernt seine Grenzen zu kommunizieren und viele neue Lichtschalter zu aktivieren. Leben heißt nicht Sehen, man kann blind selbstbestimmt und glücklich leben.

Rückfälle in eine frühere Verarbeitungsphase sind möglich, z. B. wenn ein sehr belastendes Ereignis hinzukommt, etwa Mobbing am Arbeitsplatz, der Tod eines geliebten Menschen, eine zusätzliche Erkrankung. Bei mir war es die Depression, die mich unter Wasser zog und ich kann sagen, die macht es erst wirklich finster, nicht die Blindheit, mit der kann man lustvoll und sinnlich leben, nicht aber mit der Grabesplatte der Depression auf der Seele. Die legte sich auf mich wie ein verzehrender Schleier und das nicht wegen meiner Behinderung sondern wegen einer zermürbenden und unfairen Situation am Arbeitsplatz, die zu einer gesundheitlichen Abwärtsspirale führte.

Eines Deiner Lebensthemen ist (inklusive) Sexualität. Brauchen Menschen mit Behinderung eine Lobby für dieses Thema? Was unterscheidet sich vom sexuellen Selbstverständnis nichtbehinderter Menschen?

Ein großes Anliegen ist für mich die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen mit Behinderungen, die im Vergleich zu ihren nicht behinderten Geschlechtsgenossinnen überdurchschnittlich häufig von sexuellen Übergriffen betroffen und bedroht sind. Hier spielt die Sozialisation durch Schule und Elternhaus auch eine entscheidende Rolle und die eigene Körperbildwahrnehmung ist im Falle der Blindheit oft auf eine bestimmte Weise durch sehende Bezugspersonen geprägt, die ihre Vorstellungen auf das blinde Mädchen oder die blinde Frau übertragen. Das ist oft gut gemeint, kann aber im negativen Fall nachhaltig Narben hinterlassen. Oft mussten sich blinde Frauen sehr selbstwertschädigende Sätze anhören, wie ich während meiner Arbeit an der Anthologie „Hinter Aphrodites Augen“ erkennen musste. Sie berichteten von Sätzen wie: „Du kannst froh sein, wenn du überhaupt einen Mann abbekommst“, „Deine Augen sehen zum Kotzen aus“, „Als Blinde kannst du keine langen Haare tragen, die kannst du gar nicht pflegen“, „Wer mit einer Blinden zusammen ist, muss ja einen Helferkomplex haben“ oder „Wenn du als Blinde einen kurzen Rock trägst, musst du dich nicht wundern, wenn dir was passiert.“

Mutige Seminarteilnehmer fragten mich manchmal, ob ich überhaupt schon mal einen Freund hatte und wie das so funktionieren kann mit dem Kennenlernen, dem Verlieben, der Sexualität und dem Beziehungsalltag, wenn ich doch blind bin. Nicht selten ging man auch davon aus, dass mein sehender Partner meine Outfits zusammenstellt und mich wie ein Püppchen zurechtmacht und man zollte ihm großen Respekt dafür, dass er überhaupt mit mir zusammen ist. Seine „Lebenslaufmaschen“ waren ihm ja nicht auf die Stirn geschrieben.
All das macht natürlich auch etwas mit dem erotischen Selbstverständnis oder der Selbstbehauptung von Frauen mit Behinderungen und zeigt, dass diese Themen noch nicht ausreichend angenommen und angekommen sind. Ich möchte natürlich in die andere Richtung, ich möchte Frauen und Mädchen mit Behinderungen in ihrer Selbstwahrnehmung und im Ausdrücken ihrer Bedürfnisse stärken und tue dies auch in zahlreichen Projekten, etwa in meiner verschriftlichten Workshop-Sammlung „Der Geschmack von Lippenrot“, die zur Leipziger Buchmesse 2019 erscheint und in welcher ich blinde und auch sehende Frauen zu einer selbstbestimmten Auseinandersetzung mit dem äußeren und inneren Spiegelbild anrege.    

Liebe Jennifer, wir danken Dir für dieses Gespräch.

Lieber Tristan, ich danke dir für die Bereitstellung der Inhalte und deine großartigen Fragen!