
Berlin (kobinet) Die Vertreter*innen des Deutschen Behindertenrates hatten diese Woche ein Online-Gespräch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie es war und ob dabei auch etwas für mehr Barrierefreiheit herausgekommen ist, darüber sprach kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit dem Geschäftsführer der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Alexander Ahrens.
kobinet-nachrichten: Sie waren am 18. März beim Online-Gespräch der Bundeskanzlerin mit dem Deutschen Behindertenrates dabei. Wie war’s?
Alexander Ahrens: Ich war angenehm überrascht, wie locker, wohlwollend und aufmerksam Frau Merkel auf die Sprecherratsmitglieder des Deutschen Behindertenrates (DBR), trotz spürbarer aktueller politischer Lage, zuging. Nach einem Eingangsstatement von der Bundeskanzlerin, in dem sie sich zuerst bei allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Aktiven der Sozial- und Behindertenverbände für deren wichtige behindertenpolitische Arbeit bedankte, konnten wir unsere gemeinsamen Positionen und Forderungen des DBR vortragen. Diese Online-Formate müssen viel öfter stattfinden - auf mehreren politischen Ebenen. Bisherige Treffen in der Präsenz habe ich dagegen meist als nicht so konstruktiv wahrgenommen.
kobinet-nachrichten: Das Thema Barrierefreiheit war ein Thema, das gerade auch aufgrund der aktuellen Gesetzgebungsverfahren mit der Kanzlerin angesprochen wurde. Wie hat Sie reagiert?
Alexander Ahrens: Wir sprachen zum aktuellen Gesetzgebungsverfahren und die damit verbundene Umsetzung des European Accessibility Acts (EAA) die langen Umsetzungsfristen, die fragliche Marktüberwachung durch die Bundesländer und die fehlende Verpflichtung zur baulichen Barrierefreiheit an. Frau Merkel signalisierte Verständnis für die Probleme der Betroffenen, machte aber meiner Meinung nach deutlich, dass jetzt die richtige Zeit wäre, mit diesen berechtigten und guten Forderungen auf die Parlamentarier*innen zuzugehen.
kobinet-nachrichten: Was ist Ihnen persönlich in Sachen Barrierefreiheit besonders wichtig?
Alexander Ahrens: Man muss Barrierefreiheit ganzheitlich betrachten: Die informelle, digitale und bauliche Barrierefreiheit muss nun auch für die Privatwirtschaft gelten. Die Umsetzungsfristen müssen wesentlich verkürzt werden. Wenn erst ab dem Jahr 2035 ein seheingeschränkter Mensch ein barrierefreies Bankkonto eröffnen kann, dann ist das schon sehr frustrierend. Die Kanzlerin schien im Gespräch, meinem Eindruck nach, über die gesetzten langen Fristen sehr betreten und verwundert.
Wir brauchen ein Gesetz, dass alle Bedarfe und Einschränkungen behinderter Menschen berücksichtigt. Und die Erfahrungen aus dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), welches seit 2002 existiert, haben gezeigt, dass man trotz gesetzlicher Vorschrift schon bei öffentlichen Trägern dicke Bretter bohren muss, um Barrierefreiheit jedweder Art mühselig durch- und umzusetzen.
Zudem müssen diese Ansprüche individuell und auf Verbandsebene einklagbar sein. Die letzten drei Jahrzehnte aus den Erfahrungen der Behindertenbewegung haben gezeigt, dass wir mit Freiwilligkeit nicht entschieden voran kommen. Unternehmen, die jetzt schon barrierefreie Dienstleistungen und Güter anbieten oder die bauliche Barrierefreiheit umsetzen, sind zur Zeit wirtschaftlich eher im Nachteil gegenüber anderen, die dies ignorieren und hierfür kein Geld aufwenden. Hier braucht es klare Spielregeln, an denen sich alle halten müssen. Dies sprachen wir auch bei der Kanzlerin an und haben keine Widerworte geerntet.
Unsere Erfahrung hat auch gezeigt, dass Stakeholder aus der Privatwirtschaft froh sind, wenn gesetzliche Rahmenbedingungen für alle gleich gelten und damit wissen, woran sie sich festhalten können. Andere Länder auf der Welt haben gezeigt, dass mit der Verpflichtung zur Barrierefreiheit noch keine Volkswirtschaft Pleite gegangen ist. Ganz im Gegenteil – es konnten oft höhere Umsätze erzielt werden.
kobinet-nachrichten: Derzeit engagiert sich ein Bündnis von Behindertenverbänden für ein gutes Barrierefreiheitsrecht. Worauf hoffen Sie dabei?
Alexander Ahrens: Hoffen bringt nichts. Die gesamte Verbändelandschaft und die Bündnispartner*innen müssen die politischen Mandatsträger*innen davon überzeugen, dass im Zuge der Corona Pandemie, wo schon extrem viel Geld in die Hand genommen wird, jetzt die Chance ergriffen werden muss, für eine gutes Barrierefreiheitsrecht einzustehen. Alle Investitions- und Förderprogramme, die jetzt aufgesetzt werden, müssen Barrierefreiheit als Bedingung ausweisen. Wer sich Inklusion auf die Fahnen schreibt, muss jetzt auch mal handeln. Und ja, es wird etwas kosten. Es gibt meiner Ansicht nach nichts Nachhaltigeres für eine inklusive Gesellschaft zu tun, als Barrierefreiheit und ein Design für alle so schnell es geht umzusetzen.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.
Link zur Pressemitteilung des DBR zum Treffen mit der Bundeskanzlerin