Wolfgang Biermanski erzählt seine Geschichte
Viel zu oft hat Wolfgang Biermanski erlebt, dass über die Köpfe von Menschen mit Behinderungen hinweg und für sie anstatt mit ihnen geredet wurde. Deshalb hat der Inklusionsbotschafter in Ergänzung zu seinem Porträt seine Geschichte aufgeschrieben.
Meine Geschichte
von Wolfgang Biermanski
Durch die Liebe zweier Personen wurde ich geboren. Zunächst glaubte man, dass mit dem Jungen alles in bester Ordnung sei. Jedoch waren meine mit gutem, gesundem Menschenverstand ausgestatteten Eltern sehr bald anderer Meinung. Dass der Junge die vielen Türrahmen und Möbel beim Krabbeln nur deshalb mitnahm, weil er diese liebte und die blauen Flecken und das Schreien auch, konnte nicht so sein – da musste etwas anderes zu Grunde liegen.
Es folgte eine lange Kette von Untersuchungen: Die Netzhaut war nur zu einem Bruchteil ausgebildet und das musste es sein.
OK, es folgte das Abenteuer Kindergarten. Ich ging in einen ganz normalen Kindergarten um die Ecke, wie andere Kinder meiner Nachbarn auch. Zur Überraschung der Leiter geschah mir viel weniger als den anderen Kindern. Danach ging es weiter auf der westfälischen Schule für Sehbehinderte in Gelsenkirchen; dort absolvierte ich Grund- und Hauptschule. Nun gut, nach Vollendung der 10. Klasse kam das nächste Abenteuer: Es galt einen Beruf für mich zu finden.
Die erste Station hier war, dass ich Masseur werden wollte. Einige Häuser weiter von meinen Eltern wohnte ein älterer Masseur und die Sache schien geritzt. Aber die Belastung bei der täglichen Arbeit war für meine Hände zu groß.
Da in unserer Familie einige Selbstständige waren, die ein Büro hatten, reizte mich dieser Beruf und ich wollte Bürokaufmann werden. Ich machte eine Ausbildung im Berufsbildungswerk für hochgradig Sehbehinderte und Blinde Soest. Und ich brachte mir aktuelle Dinge am Computer im Eigenstudium bei. Aber mein Hören wurde immer schlechter.
Und wenn man nichts sieht und schlecht hört, wird das Leben sehr einsam. Außer meiner Eltern gab es keine weiteren Kontakte.
Nach dem ersten Auszug in eine eigene Wohnung – Anfang 2009 - musste ich schmerzlich am eigenen Leib erfahren, dass man so nicht leben kann. Die Eltern werden älter und sonst war niemand in Sicht. Ich versank in eine sehr tiefe Depression und versuchte, mein Leben zu beenden. Dies war die große Wende in meinem Leben!!! Komplett ohne Augenlicht und mit einem Resthörvermögen von knappen 9 % eroberte ich die Welt – meine Welt – neu!!!
Durch eine sehr lösungsorientierte Psychotherapeutin kam ich in eine Selbsthilfe-Gruppe für Angst und Panikattacken. Als die mich auf dem alljährlichen Ausflug einfach so - als sei es das Normalste der Welt – mitnahmen, setzte bei mir die Heilung ein. Es gab doch Menschen, die auch mich mitnehmen – wunderbar!!!
Aus dieser Situation heraus gründete ich das Wohlfühl-Netzwerk mit dem mindestens monatlich stattfindenden Wohlfühl-Treff. Im Laufe der Zeit lernte ich die taubblinden Menschen kennen und sehr mögen. Ich war und bin ja auch so einer.
Es gab da ein Schlüsselerlebnis: Bei einer Zusammenkunft Anfang 2013 wurde ich spontan von Ernst zur Begrüßung in den Arm genommen. Ernst kann weder sehen, noch hören, noch sprechen – ist also komplett taubblind. Doch diese sehr positive Lebensenergie, die ich da zu spüren bekam, die hob damals meine Welt und mein Denken aus den Angeln. Ich war und bin heute noch zu tiefst positiv beeindruckt!!!
Es wuchs der Wunsch, mich für diese Menschen einzusetzen. Das tue ich heute mit großer Passion. Mit der Zeit erkannte ich, dass diese Menschen auf Grund ihrer Behinderung, die Kommunikation mit anderen Menschen fast unmöglich macht und fast dauerhaft auf spezielle Assistenz angewiesen sind, eben auch in der Politik und Gremien der Selbsthilfe an den Rand gedrückt werden. Das wollte und sollte sich / ich ändern.
Durch den bundesweit tätigen Verein „Leben mit Usher-Syndrom e.V.“ wurde ich zum Beauftragten für die Landesarbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig bin ich ebenfalls Abgesandter für die Landesarbeitsgemeinschaft der Selbsthilfe Nordrhein-Westfalen für den Landesverband der Taubblinden Nordrhein-Westfalen. Diesen Verein vertrete ich auch in der Gremienarbeit der Selbsthilfe bei beiden Landschaftsverbänden - Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und Landschaftsverband Rheinland (LVR).
Als Aktivist nehme ich an vielen Vorträgen und Seminaren teil, zum Beispiel des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Nordrhein-Westfalen der Friedrich Ebert Stiftung, der SPD und natürlich auch der Selbsthilfe in meiner Heimatstadt Herne.
Im November 2016 gründeten wir in Herne die Arbeitsgemeinschaft „Selbst Aktiv – behinderte Menschen in der SPD Herne“. Die Gründungskonferenz wählte mich einstimmig zum Vorsitzenden. Inzwischen habe ich noch weitere Ämter in der Herner SPD. So wurde ich zum Beispiel zu einem von 3 stellvertretenden Sprechern des Arbeitskreises Europa in der SPD Herne gewählt.
Auch tauche ich gerne auf verschiedenen kulturellen Veranstaltungen auf und teste gerne die Bereitschaft zur Inklusion. Beispielsweise beim Kanalfest in Herne, bei dem es eine Kugel gab, in die man einsteigen und angeblich die Schwerelosigkeit erfahren konnte. Oder auf der Kirmes, wenn man in der Achterbahn mitfahren möchte und dies alleine nicht kann. Nun, diese Tests erwiesen sich alle als durchweg positiv und aufgeschlossen, was mir Mut zu mehr macht.
Dieser Mut auf mehr wurde der große Schritt Ende 2017 aus dem elterlichen Haushalt in eine eigene Wohnung zu ziehen und nun mein Leben selbstständig zu meistern. Nur wenn einem hier das Sozialamt Herne im Rahmen der Eingliederungshilfe nicht immer wieder neue Steine in den Weg legen würde, wäre es noch schöner. Doch auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man ein schönes Haus bauen (nach Erich Kästner).
So, und nun gibt es trotz oder gerade durch diese ganzen Unternehmungen und Herausforderungen ein neues Projekt: Lormtreff. Das Lormen ist noch recht unbekannt. Es handelt sich hierbei um ein Tastalphabet, welches durch Drücken an verschiedenen Stellen der Finder und Hand, sowie Abstreichen vermittelt wird. Ein Druck auf die Spitze des Daumens ist zum Beispiel das A. Das herabstreichen des Mittelfingers bis hin zur Handwurzel ist das L.
Ich möchte in Herne mitten im Herzen des Ruhrgebietes einen dauerhaften Treff einrichten, wo man Lormen lernen und in der Praxis übern kann. Lormen zu lernen, ist die eine Sache und das geht eigentlich recht schnell. Doch so gut Lormen zu können, dass man auch auf Anhieb versteht, was der andere einem da in die Hand lormt, ist die andere Sache und das schafft man nur durch Übung. Genau diese Möglichkeit des Übens fehlt meistens.
Zudem wird Lormen nur in den Kreisen der Taubblinden verbreitet. Lormen ist jedoch eine wunderbare Möglichkeit für schwerhörige Menschen und deren Angehörige. Wie oft habe ich es selber erfahren? Da wird ein Name genannt, den ich nicht verstanden habe. Meine Begleitung dreht fast am Rad, als ich den nach dem 5. Wiederholen immer noch nicht verstanden hatte und die anderen gucken schon ... Das kann man zum Beispiel mit Hilfe von Lormen ganz unauffällig und schneller machen. Und wenn man in einer größeren Runde sitzt, muss doch auch nicht jeder mitbekommen, dass meine Begleitung auf die Toilette muss.
In einer Selbsthilfegruppe für Taubblinde in Dortmund werden wir Ende April und Juni 2018 je einen Trockenlauf veranstalten. Als die Leiterin mir das so erzählte und als Referenten keinen geringeren als mich im Auge hatte, wurde in mir der Wunsch nach mehr geweckt. Jetzt ist das Projekt Lormtreff mein nächstes Ziel. Ich lasse keine Gelegenheit aus, als Inklusionsbotschafter über die Taubblindheit und ein aktives Leben trotz Schwerbehinderung zu berichten.
So gab es gerade eine wunderbare Veranstaltung im KommunikationsForum (KoFo) des Berufskolleges für Schwerhörige und Gehörlose in Essen. Hier stellten wir – die beiden Leiterinnen der Taubblinden-Assistenz Qualifizierung in Recklinghausen und ich – die Taubblindheit und diese Qualifizierung vor. Noch am Abend entschied sich eine junge Dame für diese Qualifizierung. Nach ihrem Statement nach wurde sie durch meinen lebendigen Bericht dazu animiert. Was gibt es schöneres.
Von mir kann ich heute sagen: Ich bin Inklusionsbotschafter mit Passion und Herzblut. Vielen herzlichen DANK für Euer tun und sein.