Blind Simulation - Absurder Augenbindentrend

Halle (kobinet) Die Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag hat den neuen Trend des Augenverbindens im Rahmen der sogenannten Bird Box Challenge zum Anlass für einen Kommentar für die kobinet-nachrichten genommen. Sie mahnt, dass man sehr genau "hinschauen" sollte, welche Leidenschaften, welche Leiden schaffen können.
Kommentar von Jennifer Sonntag
Ich kann zwar nicht sehen, manchmal aber offensichtlich hellsehen. In meinem aktuellen Buch „Der Geschmack von Lippenrot“, welches zur Leipziger Buchmesse in der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig erscheint, thematisiere ich neben vielen Selbststärkungstipps für blinde Frauen, auch absurde Trends von gestern, heute und morgen. Als ich 2017 mein Manuskript einreichte, ahnte ich noch nicht, dass eine meiner Zukunftsvisionen so rasch absurde Realität werden würde. Ich schrieb: „Ich persönlich warte ja auf den Tag, an dem Blindheit zum Hype erklärt wird. Da sehe ich schon die Mädels mit strassbesetzten rosa Augenklappen unbeholfen über die Straßen torkeln. Wer souverän auf beiden Seiten eine trägt, gehört dann selbstverständlich zu den angesagtesten Fashionistas. Und es gäbe einen riesen Markt an Beauty-Zusatzprodukten für den Glitzer-Blindheitstrend: Glitzerblindenstöcke, Einhorn-Braille-Schreiber, unsichtbare Lifestyle-Events und Leute, die an den trendy Blindinen Millionen verdienen.“
Mein Lektor schrieb mir nun, es sei fast schon kurios. Er lese gerade die Endkorrektur zu meinem Buch und müsse mir quasi prophetische Fähigkeiten attestieren. Meine Aussage sei gewissermaßen Wirklichkeit geworden, wenn auch die Stylingaspekte hier nicht im Vordergrund stünden.
Ich selbst hatte auch schon davon gehört, dass zahlreiche Netflix-Zuschauer derzeit den Filmtitel „Bird Box – Schließe deine Augen“ mit Sandra Bullock zu wörtlich nehmen würden. Im Film versucht Sandra Bullock in einer postapokalyptischen Welt zu überstehen. Die Erde wird darin von Wesen überfallen, die alleine durch ihren Anblick Menschen dazu veranlassen, Selbstmord zu begehen. Die Lösung für alle, die überleben wollen, sind, wer hätte es gedacht, Augenbinden. Jetzt dient der Horrorstreifen zu meiner großen Empörung sogar als Inspiration für eine Challenge: die sogenannte Bird Box Challenge. Die Teilnehmenden verbinden sich freiwillig die Augen und versuchen blind, alltägliche Dinge zu meistern. Wie das aussieht, können wir uns vorstellen. Manchen reicht die Vorstellung nicht. Sie möchten die falschen Blinden mit eigenen Augen sehen und das können sie in zahlreichen Videos auf Plattformen wie YouTube oder Twitter. In den Clips ist zu bewundern, wie gestolpert, angerempelt oder gegen Wände gelaufen wird. Blessuren und Verletzungen sind da natürlich vorprogrammiert.
Auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) hat reagiert:
Bereits in meinem Buch „Liebe mit Laufmaschen“ habe ich mich mit dem Thema „Blind Simulations“ im gleichnamigen Text auseinandergesetzt. Inspiration dafür waren Menschen, die bewusst mit Behinderung als Verkleidung spielten, um dadurch sexuelle Lust zu erfahren. Die Protagonistin in meiner Kurzgeschichte reiste mit verbundenen Augen in verschiedene Großstädte, um als „falsche“ Blinde lustvolle Abenteuer zu erleben. Dadurch verunglückte sie bei einem Straßenbahnunfall und verlor durch die kapitalen Verletzungen am Kopf ihr Augenlicht. Ich schrieb diesen Text auch als Warnung. Auch wenn ich mich als offenen und vielfaltfördernden Menschen verstanden wissen möchte, sollte man doch sehr genau „hinschauen“, welche Leidenschaften, welche Leiden schaffen können.