Neues Buch: Der Geschmack von Lippenrot

Jennifer Sonntag
Jennifer Sonntag

Leipzig (kobinet) Zur Leipziger Buchmesse 2019 wird in der Deutschen Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig das neue Buch der Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag "Der Geschmack von Lippenrot" erscheinen. Sie nennt es "mein Selbststärkungsbuch für blinde Frauen", welches aber inklusiv gedacht ist und auch interessante Impulse für sehende Frauen und in einzelnen Kapiteln sicher auch Lesestoff für alle offenen und neugierigen Menschen enthält. So wird es zum Beispiel umfangreiches Kursmaterial zum Thema Mimik, Gestik und Körpersprache bereithalten – so, wie sie sie blinden Menschen vermitteln möchte. Die Zeitschrift "Sichtweisen" veröffentlicht in ihrer Dezemberausgabe bereits eine Kostprobe zum Thema Mimik und Gestik und titelt sie mit der Überschrift "Sehende Menschen nicht imitieren".

Jennifer Sonntag stellte folgenden Text den kobinet-nachrichten zur Veröffentlichung zur Verfügung:

Eigene Erfahrungen zu Mimik und Gestik:

Mit dem Thema Mimik und Gestik wurde ich wohl am häufigsten in meiner Fernseharbeit konfrontiert. Ausgerechnet als blinde Frau mit meinen „SonntagsFragen" ein visuelles Talkformat zu bedienen, obwohl ich visuelle Impulse selbst nicht wahrnehmen kann, erfordert sensible Kommunikationsantennen. Meine prominenten Gäste sind oft Schauspieler oder medien- und kameraerprobte Persönlichkeiten. Sie sind es gewohnt, dass ihr Gegenüber ihre Mimik und Gestik optisch auffängt. Das vermittelt ihnen Sicherheit. Ich spüre es, wenn ein Gesprächsgast nicht weiß, wo er im Kontakt mit mir hinschauen soll, den Blick hilfesuchend an mir vorbei schweifen lässt, jenen Blick, den ich nicht auffangen, nicht spiegeln kann. Ich versuche mit Worten, meiner tragenden Stimme, meiner Körpersprache, die die Richtung zum Gegenüber sucht, diese Sicherheit zu vermitteln.

Bei Fotoarbeiten oder ausgedehnten Dreharbeiten innerhalb meiner Öffentlichkeitsarbeit strengt es mich sehr an, lange einen bestimmten Punkt zu fixieren, mit Augen oder Gesicht zu arbeiten. Meine Augen driften dann ab oder wollen zufallen. Ich muss sie entspannen, sonst bekomme ich starke Kopfschmerzen, alles flimmert und dreht sich. Ich musste erst lernen, diese Grenzen auch zu kommunizieren, denn sehende Menschen können sich nicht vorstellen, welche Bedürfnisse blinde Augen haben und wieviel Konzentration sie das Fixieren einer für sie unsichtbaren Situation kostet.

Ich wurde oft „bewundert" für mein unblindes Aussehen, finde es aber anstrengend, mir aus diesen Gründen Mimik und Gestik aufzusetzen. Aus meiner Sicht sollten wir blinden Menschen nicht versuchen, sehende zu imitieren, sondern unsere Attribute immer auch ein bisschen als Markenzeichen zu betrachten.

Als Inklusionsbotschafterin der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland" und Peer Beraterin in der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung habe ich das Aufklärungsangebot „stop.mobb.handicap" ins Leben gerufen. Menschen mit Behinderungen erhalten auf meiner Internetseite www.blindverstehen.de unter dieser Rubrik Informationen zum Thema „Behinderung und Mobbing am Arbeitsplatz". Gerade bei blinden und sehbehinderten Betroffenen spielt die Tatsache, dass sie die Mimik und Gestik Mobbender nicht wahrnehmen können eine große Rolle. Auch sind sie darauf angewiesen, dass Kollegen ihnen „übersetzen", wie andere geschaut haben. Oft setzen andere im Team in ihrem Sinne ein, was sie der blinden oder sehbehinderten Person wie oder wann weitergeben. So entstehen verfälschte Bilder, manchmal über viele Jahre.

 

Irritierende Situationen im Alltag gibt es viele. Bei Männern zum Beispiel galt ich oft als unnahbar und unterkühlt, weil ich eben so schaute, wie ich schaute. Das hatte mit meinem zunehmenden Tunnelblick zu tun. Hände, die mir gereicht wurden, habe ich bei Begrüßungen regelmäßig unfreiwillig ignoriert. An der Kasse in der Kaufhalle bekam ich zu hören: „Ach, Madame träumt im Stehen!", weil ich in der Schlange nicht weitergerückt bin. Das sah ich ja nicht, und es war zu einem Zeitpunkt, zu dem ich die Augen schon manchmal aus Überforderung schloss. Den Stock übersah die Dame, die mich da angezickt hatte.

 

Einmal fühlte sich auch ein Typ in einem Fast-Food-Restaurant von mir beim Essen angestarrt, weil er glaubte, dass ich ihn im Spiegel beobachtete. Ich wusste nicht, dass an der Wand neben mir ein Spiegel war und schaute extra zur Wand, um nicht zum Nachbartisch zu starren. Die Situation klärte sich erst auf, als mein sehender Partner zum Tisch zurückkehrte. Obwohl ich mit meinem Führhund immer mit Führgeschirr unterwegs bin, wenn ich ohne Begleitperson gehe, verstehen zum Beispiel andere Hundebesitzer oft nicht, dass sie verbalisieren müssen, dass sie mit einem anderen Hund kommen oder am Straßenrand stehen. Sie sind Mimik und Gestik unter Hundebesitzern schon auf Entfernung gewöhnt. Ich erschrecke dann manchmal sehr, wenn plötzlich ein kläffender Hund in uns hineinläuft. Mein Credo: Reden hilft!