Von der kanadischen Lebensweise lernen

Jeanette SeverinKöln (kobinet) Die Inklusionsbotschafterin Jeanette Severin war für 15 Monate in Kanada und hat dort völlig neue Eindrücke gesammelt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit der Kölnerin, die vor ihrer Reise an einem Empowerment-Kurs der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) teilgenommen hatte, über ihre Erfahrungen in Kanada und ihren Neustart in Deutschland.

kobinet-nachrichten: Das letzte Jahr war richtig spannend für Sie. Sie haben den Sprung über den großen Teich nach Kanada gemacht. Wie kamen Sie dazu und was hat Sie nach Kanada getrieben? 

Jeanette Severin: Ja das war alles sehr aufregend. Durch eine dreiwöchige Urlaubsreise mit dem Camper durch die USA in 2017 haben wir gemerkt, dass es uns Spaß macht, jeden Tag an einem anderen Ort zu sein und neue Dinge zu erleben. Da aber zu der Zeit schon Trump gewählt worden war und wir keine Fans von ihm sind, haben wir uns für das Nachbarland Kanada entschieden. Das Visum zu bekommen, sollte außerdem laut Recherchen dort einfacher sein. Wir bewarben uns also für das Work and Travel Visum und bekamen es innerhalb weniger Monate. Die Freude darüber war riesig. Es war außerdem der perfekte Zeitpunkt für mich, denn ich hatte kurz vorher mein Studium der Sozialarbeit beendet.

kobinet-nachrichten: Und wie war das Jahr, welche Highlights haben Sie erlebt?

Jeanette Severin: Aus dem Jahr wurden sogar 15 Monate. Wir haben unseren Aufenthalt noch mit einem Touristenvisum verlängert, da es uns so gut dort gefallen hat. Highlights gab es also dementsprechend sehr viele. Uns beiden hat der Yukon sehr beeindruckt. Er liegt im nördlichen Teil von Kanada. Hier sind wir manchmal stundenlang mit unserem Campervan durch die Natur gefahren und haben nicht eine Menschenseele gesehen. Dafür sehr viele Tiere, Bären, Elche, Bisons usw.. Die Landschaft dort ist sehr unterschiedlich und einfach traumhaft. Im Yukon befindet sich außerdem Dawson City. Eine verrückte kleine Stadt mit außergewöhnlichen Menschen, die 1896 zu Beginn des Klondike-Goldrausches gegründet wurde, also geschichtlich sehr interessant ist. Ein weiteres Highlight sind die Kanadier selbst. Sie sind superfreundlich, immer hilfsbereit und meistens gut gelaunt. Dies konnten wir erleben, als wir für ein halbes Jahr „sesshaft“ wurden um vor Ort (in Canmore in den Rocky Mountains) zu arbeiten.

kobinet-nachrichten: Sie sind ja behindertenpolitisch interessiert und aktiv. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich in Kanada gemacht? 

Jeanette Severin: Kanada ist super behindertenfreundlich. Es gibt alles was wir uns hier in Deutschland nur wünschen würden. Behindertentoiletten, Rampen, Aufzüge, viele Behindertenparkplätze. Barrierefreiheit ist dort eine Selbstverständlichkeit. Natürlich liegt das auch daran, dass es keine Altbauten wie hier gibt und keinen Denkmalschutz in dem Sinne. Das einzige was mich gestört und auch gewundert hat, war die fehlende Unterstützung was meine Arbeit dort anging. Ich bekam eine Stelle im Supermarkt an der Kasse und fragte, ob ich auch einen Stuhl bekommen könnte, denn generell stehen dort alle KassiererInnen bei der Arbeit. 

Meine Frage wurde mit einem knappen „NO“ beantwortet, obwohl dieses Unternehmen sich in ihrem Werbefilm als inklusiv vorstellt. Auch nach mehrmaligem Nachfragen wurde meiner Bitte nicht nachgekommen. Das hat mich, wie gesagt, irritiert, aber warum es so ist, weiß ich bis heute nicht. Ich konnte also nur maximal vier Stunden arbeiten, was unseren Verdienst natürlich geschmälert hat.

kobinet-nachrichten: Nun sind Sie wieder im deutschen Alltag angekommen. Was bleibt von einer solchen Zeit im Ausland? 

Jeanette Severin: Die Entspanntheit – zumindest noch. Durch die Reise habe ich Ruhe schätzen gelernt und rege mich nicht mehr so leicht über Lappalien auf. Ich habe dort auch angefangen, zu meditieren. Außerdem bleiben natürlich die Erinnerungen an diese schöne Zeit und der Kontakt zu Kanadiern oder anderen Work and Travellern, die wir dort kennen gelernt haben. 

kobinet-nachrichten: Und nun, was steht nun in ihrem Leben an und welche beruflichen Perspektiven tun sich für Sie auf? 

Jeanette Severin: Ich bin noch in der Phase, in der ich mich wieder einlebe. Das wird jeden Tag leichter. Ich hatte ein Riesenglück und habe zwei Wochen nach meiner Rückkehr schon einen Job gefunden. Ich arbeite jetzt als Teamleiterin bei Ipsa Vita, einem Assistenzdienst für Menschen mit Behinderung in Köln. Meine Arbeit besteht unter anderem darin, Dienstpläne zusammen mit dem Team der Assistenten zu erstellen, Vorstellungsgespräche zu führen, bei Konflikten zu vermitteln und dem/der AssistenznehmerIn die meiste organisatorische Arbeit abzunehmen. Die AssistenznehmerInnen können so ein selbstbestimmtes Leben führen.

Privat würde ich mich gerne hier in Köln für den Tierschutz engagieren, mein Ehrenamt im Kölner Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen (ZsL) weiterführen und vielleicht wieder Theater spielen. 

kobinet-nachrichten: Gibt es etwas, was Sie sich hierzulande wünschen würden im Vergleich zu Ihrer Zeit in Kanada?

Jeanette Severin: Mehr Offenheit und Freundlichkeit. Da können wir uns hier noch so einiges von den Kanadiern abgucken. Außerdem, wie schon erwähnt, der Umgang mit dem Thema Behinderung oder chronischen Erkrankungen. Ein Thema, was hier immer noch tabuisiert wird ist zum Beispiel „psychische Erkrankungen“. In Kanada wird es immer sichtbarer und nicht als Schwäche gesehen. Die Kanadier unterstützen sich gegenseitig, wo es geht und es ist ihnen dabei egal, wo du herkommst, welche sexuelle Orientierung, oder ob du eine Behinderung hast.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.