Gesundheit
Obwohl behinderte Menschen nach der UN-BRK das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne jegliche Diskriminierung aufgrund ihrer Beeinträchtigung haben, sind sie in verschiedenen Bereichen unseres Gesundheitssystems benachteiligt. Die Probleme reichen von nicht barrierefreien Arztpraxen und fehlender Assistenz im Krankenhaus über mangelndes Wissen von Ärzt*innen und medizinischem Personal, insbesondere in puncto Versorgung chronischer Erkrankungen und zusätzlichen Beeinträchtigungen (zum Beispiel Sinnesbeeinträchtigungen oder psychosozialen Gesundheitsbeschwerden). Zu beklagen sind darüber hinaus das Fehlen einer ganzheitlichen Diagnostik und Therapie, einer umfassenden Patient*innen-zentrierung, bei der die Orientierung am individuellen Hilfe- und Unterstützungsbedarf im Mittelpunkt steht, die Schnittstellenproblematik beim Übergang vom stationären zum ambulanten Bereich sowie die unzureichende Personalversorgung aufgrund von 16 vermeintlichen Sparzwängen. Zusätzlich sind menschenrechtliche Probleme in der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderungen beziehungsweise Beeinträchtigungen zu konstatieren, unter anderem im psychiatrischen und psychosozialen Versorgungssystem. Die Durchführung von Zwangsmaßnahmen (wie Zwangsunterbringung, Zwangsdiagnostik, Zwangsmedikation, »Fixierung«, Isolierung, Anwendung von Sanktionen, zwangsweise durchgeführte therapeutische Interventionen, Elektroschock oder sogar Operationen, etc.) sind mit der BRK nicht vereinbar und als »medizinische Hilfe« gänzlich ungeeignet. Die ISL befürwortet die Einsetzung einer neuen Psychiatrie-Enquête, um die menschenrechtliche Situation umfassend zu untersuchen, so wie es der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung (CRPD-Committee) bereits 2015 angemahnt hat. Die ISL kritisiert die einseitige Fixierung auf eine defizitorientierte medizinische Perspektive und engagiert sich für die Verbreitung des ressourcenorientierten salutogenetischen13 Ansatzes. Außerdem setzt sich die ISL dafür ein, dass alle Gesundheitsleistungen von Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt wahrgenommen werden können. In der medizinischen Behandlung und Pflege ist in allen Sektoren der gesundheitlichen Versorgung sicherzustellen, dass Kommunikationssettings partizipativ gestaltet werden. Informierte Entscheidungen in Bezug auf alle diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen sind zu gewährleisten. Beschwerdemöglichkeiten sind klar zu kommunizieren, das Beschwerdemanagement ist auszubauen. Die ISL plädiert für einen Aktionsplan zum Umbau des Gesundheitswesens im Sinne der BRK, in dem Maßnahmen definiert sowie Zeithorizonte und Zuständigkeiten festgeschrieben werden.
Forderungen der ISL:
1. Die solidarische Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung ist zu erhalten und als Bürgerversicherung auszubauen. Ärztliche Leistungen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung dürfen nicht länger unterschiedlich honoriert werden.
2. Alle an der medizinischen Versorgung Beteiligten (wie Gesundheitspolitiker*innen, Mediziner*innen, Psycholog*innen, Produkthersteller*innen, Architekt*innen, Sanitätshäuser), sind für die spezifischen Belange, die Autonomie und die Würde von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren, was auch als Bestandteil der Aus- und Fortbildung festzuschreiben ist.
3. Das Konzept der Salutogenese wurde vom Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt. Damit begründet er einen inhaltlichen Perspektivenwechsel in der Medizin: Die etablierte »Pathogenese« beschäftigt sich mit der Entstehung von Krankheiten.
4. Alle ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen sind flächendeckend und barrierefrei auszubauen. Menschen mit Beeinträchtigungen dürfen nicht ausschließlich auf »Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB)« und behinderte Kinder nicht ausschließlich auf Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) verwiesen werden. Barrierefreiheit im Sinne der BRK ist als Qualitätsstandard für die medizinische Leistungserbringung zu verankern.
5. Eine individuelle, ganzheitliche und sektorenübergreifende medizinische Versorgung, insbesondere eine bedarfsdeckende, an der Person orientierte Heil-, Hilfs- und Arzneimittelversorgung sind zu gewährleisten.
6. Die Hilfsmittelversorgung muss bedarfsdeckend, teilhabe-orientiert und nachhaltig erfolgen. Die ISL unterstützt die Idee, regionale Kompetenzzentren zur Hilfsmittelversorgung14 einzurichten, in denen alle Akteur*innen - einschließlich der Vertreter*innen der Menschen mit Behinderungen - zusammenarbeiten.
7. Die medizinische Rehabilitation ist so auszubauen, dass sie auch für Menschen mit hochgradigen Beeinträchtigungen zugänglich und nutzbar ist und sich an der Stärkung der Selbstbestimmung und der individuellen Fähigkeiten zur umfassenden Partizipation in allen Lebensbereichen orientiert.
8. Die Inanspruchnahme und Finanzierung persönlicher Assistenz im Krankenhaus und bei Reha-Maßnahmen sind sicherzustellen.
9. Das Rechtsinstitut der »krankheitsbedingten Einwilligungsunfähigkeit«, das als Grundlage für die Legitimierung und Durchführung ärztlicher Zwangsmaßnahmen, v.a. an Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, kognitiven Einschränkungen und Lernschwierigkeiten dient, ist abzuschaffen.
10. Solange diese Forderung nicht umgesetzt ist, sind Zwangsmaßnahmen ausnahmslos und öffentlich einsehbar zu dokumentieren. Die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage ist erforderlich, welche die Einrichtung eines zentralen (bundeseinheitlichen) Registers zur Erfassung ärztlicher Zwangsmaßnahmen vorsieht. Eine Dokumentation ärztlicher Zwangsmaßnahmen ist zudem zu einem verpflichtenden Bestandteil der Qualitätsberichte der Krankenhäuser zu machen. Hierfür ist dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein entsprechender Regelungsauftrag zu erteilen.
Presseaktivitäten:
· PM zu Triage ISL fordert Regelungen zur Triage nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung behinderter Menschen (isl-ev.de)
· PM zu Pflege Außerklinische Intensivpflege – beschlossene Sache! (isl-ev.de)
Themen:
Triage
Die Corona-Pandemie zu Beginn 2020 und der damit verbundenen notwendigen medizinischen Ressourcen zur Behandlung erkrankter Menschen brachte, auch weil man in Italien sah, dass triagiert wurde, bei behinderten Menschen die Frage auf – ob und wie sie diskriminierungsfreien Zugang zu knappen medizinischen Behandlungskapazitäten haben würden, sollte es zu der zugespitzten Situation in Deutschland kommen. Einige behinderte Menschen reichten im Sommer 2020 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.
Eine Handlungsempfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin – DIVI – zeigt anhand ihrer „Gebrechlichkeitsskala“ auf, dass behinderte und ältere Menschen klar benachteiligt würden im Falle Triage. Am 28. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss zu einer Beschwerde verkündet. Die Beschwerdeführer*innen hatten zurecht gerügt, dass behinderte Menschen in Situationen auf Intensivstationen, bei denen nur noch knappe intensivmedizinische Ressourcen wie Beatmungsplätze und Intensivbetten vorhanden sind, bei der Entscheidung, wer diese Ressourcen erhalten darf, massiv benachteiligt werden. Das Bundesverfassungsgericht gab ihnen Recht in seinem Entscheid und forderte die Bundesregierung auf, zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, die Diskriminierungen von behinderten Menschen bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Mittel gezielt entgegenwirken und verhindern. Der Beschluss war ein sehr wichtiger Schritt in eine positive Richtung, damit behinderte Menschen eine faire und gleichberechtigte Chance auf intensivmedizinische Versorgung bekommen, selbst in Fällen, bei denen entschieden werden muss, wer diese Ressourcen erhalten wird. Seit Frühling 2020 war die ISL gemeinsam mit weiteren Verbänden am Runden Tisch Triage mitbeteiligt. Es wurden gemeinsam Positionspapiere verfasst, Kampagnen ausgearbeitet und zusammen überlegt, wie das Dilemma in eine menschenrechtskonforme, diskriminierungsfreie Richtung gebracht werden kann.
Erste Entwürfe des zu schaffenden Gesetzes sorgten berechtigt für Empörung, die mangelhafte Art und Weise der Beteiligung machten es allen Beteiligten und Aktiven zudem schwer.
Dabei waren die Forderungen stets klar:
- bei Zuteilungsentscheidungen darf nicht diskriminiert werden, denn es gilt die Lebenswertindifferenz (kein Leben ist mehr wert als ein anderes)
- der Weg hinzu einer Zuteilung muss diskriminierungsfrei gestaltet werden (Randomisierung)
- bewusstseinsbildende Weiterbildungsinhalte zur UN-Behindertenrechtskonvention, Diversität und z.B. Ableismus, Ageismus müssen verpflichtend für (intensiv-)medizinisches Personal in Approbationsordnungen aufgenommen werden, um Vorurteilen und Stigmata gegenüber behinderten und älteren Patient*innen entgegen zu wirken.
Das finale Gesetz wird unseren Forderungen nicht gerecht. Weder sind Änderungen der Ausbildungs- und Studieninhalte mitaufgenommen worden, noch wird es dem Anspruch des Bundesverfassungsrechts gerecht, diskriminierungsfrei Ressourcen zu zuteilen. Nun bleibt abzuwarten, wann das Gesetz in seiner Form beim Bundesverfassungsgericht angefochten wird.
Impulspapier des Runden Tisch Triage: http://liga-selbstvertretung.de/wp-content/uploads/2022/01/220126_Impulspapier_Runder_Tisch_Triage.pdf
Die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/zum-referentenentwurf-des-bundesministeriums-fuer-gesundheit-entwurf-eines-gesetzes-zur-aenderung-des-infektionsschutzgesetzes
Anhörung im Bundestag am 19. Oktober 2022: https://www.bundestag.de/mediathek/ausschusssitzungen?videoid=7547094#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk/dmlkZW9pZD03NTQ3MDk0&mod=mediathek
Patientenvertretung im Gesundheitswesen:
Wir suchen Patientenvertreter*innen!
Du hast Interesse am Thema Hilfsmittel, Heilmittel oder Barrierefreiheit im Gesundheitswesen? Dann melde dich bei Thomas Koritz unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Nächste Termine für Selbstbetroffene:
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29. März von 15 – 18 Uhr: Treffen der ISL-Patientenvertrer*innen – offen für Interessierte (Anmeldung an gesundheit(at)isl-ev.de) als hybride Veranstaltung
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13. Februar von 16 – 18.30 Uhr: Erster von zwei Workshops zum Thema Außerklinische Intensivpflege von und für Betroffene Anmeldung an gesundheit(at)isl-ev.de Weitere Infos unter: https://www.isl-ev.de/index.php/aktuelles/termine
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Fortlaufend: Peer-Group geflüchteter Menschen mit Behinderung: Montags- und Mittwochsnachmittags: Online Treff - montags - Infoseite der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (isl-ev.de) und Online Treff- mittwochs - Infoseite der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (isl-ev.de)