Berlin, 15. Dezember 2025. Menschen mit Assistenzbedarf weisen die zunehmende Darstellung ihrer Rechte als vermeintliches „Kostenproblem“ entschieden zurück. Aktuelle Beiträge, wie zuletzt in der WELT unter dem Titel „Was wir uns künftig nicht mehr leisten können“ von Kristina Schröder (ehem. Ministerin, CDU, Vorstand der durch das Bundespresseamt geförderten rechtskonservativen Denkfabrik „Republik 21“), verschieben den Fokus weg von Menschenrechten und hin zu einer rein fiskalischen Betrachtung unserer Existenz. Diese Perspektive ist nicht nur gefährlich, sondern widerspricht dem Geiste des Grundgesetzes, des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und den Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).

Persönliche Assistenz, Schulbegleitung, Reiseassistenz oder Unterstützungsleistungen im Alltag sind keine Luxusgüter. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Assistenzbedarf arbeiten, lernen, politisch aktiv sein können, Familien gründen und so ein selbstbestimmtes Leben führen können. Wer diese Rechte in Frage stellt, stellt unsere gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft insgesamt in Frage.

Für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bedeutet persönliche Assistenz weit mehr als „Hilfe“.

Persönliche Assistenz ermöglicht es, aufzustehen und ins Bett zu gehen, zu essen und zu trinken, zur Toilette zu gehen, sich zu waschen, sich fortzubewegen, zu kommunizieren, zu arbeiten, Termine wahrzunehmen oder am sozialen Leben teilzunehmen. Persönliche Assistenz ersetzt keine Selbstbestimmung – sie ist das Instrument, mit dem diese überhaupt erst möglich wird. Ohne Assistenz wären viele von uns gezwungen, in stationären Einrichtungen zu leben, von Angehörigen abhängig zu sein oder aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Persönliche Assistenz ist damit keine Zusatzleistung, sondern die Grundlage für Würde, Freiheit und Selbstbestimmung.

Besonders problematisch ist die wiederholte Gegenüberstellung von Menschen mit Assistenzbedarf und anderen Gruppen, etwa pflegebedürftigen älteren Menschen. So werden soziale Gruppen gegeneinander ausgespielt, statt die tatsächlichen strukturellen Schwächen unseres Sozialversicherungssystems offen zu benennen.

Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir uns Teilhabe leisten können – sondern wie wir sie gerecht finanzieren.

Es existieren längst tragfähige Reformvorschläge, die in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgeblendet werden. Würde die Beitragsbemessungsgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung von derzeit 66.150 Euro auf das Niveau der Rentenversicherung (96.600 Euro im Jahr 2025) angehoben, wären auch Beschäftigte mit einem monatlichen Einkommen zwischen 5.512,50 bis 8.050 Euro beitragspflichtig. Diese Einkommensgruppe ist in der Regel seltener arbeitsunfähig als Niedrigverdienende. Allein dadurch ließen sich rund 10 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen erzielen.

Noch weitergehendes Potential entstünde durch die vollständige Einbeziehung von Selbstständigen und Beamt*innen in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sowie durch die Abschaffung der Beihilfe – wie es etwa in Österreich praktiziert wird. Diese Reform würde überflüssige Doppelstrukturen abbauen, Verwaltungsaufwand reduzieren und die Finanzierung der Sozialversicherungen auf eine deutlich stabilere Grundlage stellen. Sie würde es ermöglichen, die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung auszubauen, Beiträge zu senken und gleichzeitig Kommunen wirksam zu entlasten – insbesondere bei der „Hilfe zur Pflege“.

Irritierend ist der im oben genannten Beitrag wiederholt vorgebrachte Verweis darauf, dass selbst skandinavische Länder bei der Umsetzung von Teilhaberechten angeblich „nicht so weit gingen“ wie Deutschland. Teilhabe ist kein Wettbewerb nach unten. Wer sich bei Menschenrechten ständig an anderen orientiert, um bestehende Standards zu relativieren, gibt politischen Gestaltungswillen auf. Deutschland sollte nicht fragen, wie wenig Menschenrechte anderswo gewährt werden, sondern selbst Vorbild für eine inklusive Gesellschaft sein.

Darüber hinaus ist der Ausbau der Anstellungsverhältnisse in Privathaushalten zur Sicherung der Pflege und Assistenz ein unmittelbar wirksames Konjunkturprogramm. Er schafft zehntausende sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, baut also Arbeitslosigkeit ab und stärkt regionale Wirtschaftskreisläufe. Jeder investierte Euro fließt direkt in Löhne, Qualifizierung und Kaufkraft – und wirkt damit schneller und nachhaltiger als viele der bürokratisch aufwendigen Konjunkturhilfen der Bundesregierung. Persönliche Assistenz ist nicht nur eine Sozialleistung, sondern auch ein relevanter Wirtschaftsfaktor.

Unsere Position ist eindeutig:

Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf sind keine Kostenstelle. Wer ernsthaft die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats planen will, muss auch Leistungen berücksichtigen, die keinen direkten Bezug zur Steigerung der Arbeitsleistung haben. Dazu sind strukturelle Reformen notwendig – menschenrechtliche Verpflichtungen zur Pflege und Teilhabe behinderter Menschen dürfen dabei nicht zur Disposition stehen.

Wir verbleiben mit drei Fragen: Warum wurde ein Grundgesetz und eine UN-BRK geschaffen, wenn jeglicher Standard nach Kassenlage fallen kann? Müssten nicht Umverteilungsprozesse sicherstellen, dass alle Mitglieder der Gesellschaft menschenwürdige Lebensbedingungen vorfinden? Wer gerät nach Bürgergeldempfänger*innen, Migrant*innen und nun behinderten Menschen als nächstes in den Fokus der „Kostenstellen-Argumentation“?

Die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL)“ ist eine menschenrechtsorientierte Selbstvertretungsorganisation und die Dachorganisation der Zentren für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Sie wurde nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Independent Living Movement“ gegründet, um die Selbstbestimmung behinderter Menschen auch in Deutschland durchzusetzen.

Die „Genossenschaft behinderte Arbeitgebende“ (GbA – bund) wurde im November 2025 von Menschen mit Behinderungen gegründet, die mit Persönlicher Assistenz leben. Sie nimmt ab Januar 2026 ihre Arbeit auf. Zweck der Genossenschaft ist die Lobbyarbeit und die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen: bei der Organisation Persönlicher Assistenz, im Persönlichen Budget, durch selbst beschäftigte Assistenzgebende oder im sogenannten Arbeitgeber-Modell – um behinderten Menschen eine selbstbestimmte Lebensgestaltung mit Persönlicher Assistenz zu ermöglichen.  www.gba-bund.de

Die „Assistenzgenossenschaft Bremen“ (AG Bremen) entstand aus der Idee solidarischer Beratung unter behinderten Menschen. 1986 wurde die erste Beratungsstelle Selbstbestimmt Leben eröffnet. Da bestehende Hilfesysteme wenig Selbstbestimmung ermöglichten, gründeten behinderte Menschen 1990 die Assistenzgenossenschaft Bremen, um Persönliche Assistenz demokratisch und selbstbestimmt zu organisieren. Heute ist die AG Bremen der größte Assistenzanbieter Bremens und einer der größten bundesweit. Damit ist sie einer der größten Arbeitgeber im Sozialbereich Bremens. www.ag-bremen.de

Die GbA – bund und die AG Bremen sind Mitglieder der ISL.

V.i.S.d.P. Jenny Bießmann