Stellungnahme zum Entwurfs eines Behindertengleichstellungsgesetzes – BGG
Vorbemerkung
Wir bedanken uns für die Möglichkeit zur Stellungnahme.
Die Frist von nur 13 Werktagen ist zu kurz. Eine gründliche Analyse und Abstimmung mit der Zivilgesellschaft ist in diesem Zeitraum kaum möglich.
Wirtschaftliche Vertreter hatten bereits im Juli 2025 Zugang zu Vorentwürfen. Verbände von Menschen mit Behinderungen wurden erst Monate später und unter hohem Zeitdruck beteiligt. Dieses Ungleichgewicht verletzt das Beteiligungsgebot aus Artikel 4 Absatz 3 UN-BRK.
Wir erwarten, dass dieses Defizit im parlamentarischen Verfahren korrigiert wird und Selbstvertretungsorganisationen frühzeitig einbezogen werden.
Würdigung
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung das BGG überarbeitet und die Privatwirtschaft adressiert.
Der Entwurf lässt ein Interesse am Abbau der Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen erkennen, etwa durch die Regelungen zur Beweislast (§ 7a), zu erweiterten Pflichten für Träger öffentlicher Gewalt und öffentliche Stellen oder die Erweiterung der Befugnisse der*des Beauftragen für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Die Wirtschaft soll aber offenbar weitestgehend von Verpflichtungen ausgenommen werden. Dies hat unseres Erachtens zur Folge, dass
- Menschen mit Behinderungen stark von der Bereitschaft von Behörden und Unternehmen abhängig bleiben,
- die Pflichten aus Art. 5 und Art. 9 UN-BRK abgeschwächt werden und dass
- das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht konsequent umgesetzt wird.
- in zentralen Punkten rechtliche Unklarheiten drohen, die zu einer Verschlechterung gegenüber der geltenden Rechtslage führen könnten.
- Das ist verfassungsrechtlich und menschenrechtlich nicht hinnehmbar.
Kritikpunkte im Einzelnen
1. Verpflichtende Barrierefreiheit in der Projektförderung
Der Entwurf unterscheidet zwischen institutioneller Förderung und Projektförderung (bes. § 1 Abs. 3). In der Praxis laufen viele Zukunftsinvestitionen – etwa Digitalisierung, Modellprojekte und Neubauten – über Projektförderung.
Die „Soll“-Regelung für Projektförderung ist zu schwach. So werden weiterhin Vorhaben finanziert, die nicht barrierefrei sind. Das ist haushaltspolitisch unvernünftig, weil später teure Nachbesserungen nötig sind, und verstetigt Ausgrenzung.
Unsere Forderungen:
- „Sollen“ ist durch „müssen“ zu ersetzen.
- Jede öffentliche Förderung (institutionell und projektbezogen) ist zwingend an Barrierefreiheitsstandards zu koppeln.
- Zuwendungsbescheide müssen klare Nebenbestimmungen zur Barrierefreiheit enthalten, die überprüft werden.
2. Geltungsbereich und Verpflichtung der Privatwirtschaft auf Barrierefreiheit und Angemessene Vorkehrungen
Die Einbeziehung der Privatwirtschaft ist ein wichtiger Ansatz. Sie bleibt aber lückenhaft bzw. unverbindlich und wird im Falle Angemessener Vorkehrungen durch § 7 Abs. 3 Nr. 3 faktisch aufgehoben. Viele Angebote, die für die Teilhabe wichtig sind, würden weiterhin nicht verlässlich barrierefrei.
Angemessene Vorkehrungen sind ein Kerninstrument der UN-BRK. Sie ermöglichen Teilhabe im Einzelfall.
Der Entwurf erklärt bauliche Veränderungen und Änderungen an Gütern und Dienstleistungen in § 7 Abs. 3 Nr. 3 pauschal zu „unverhältnismäßigen und unbilligen“ Belastungen. Damit wird der Fortschritt in § 7 Abs. 2 weitestgehend aufgehoben. Die ISL schließt sich hier weitestgehend der Argumentation von Netzwerk Artikel 3 in dessen Stellungnahme an. Insbesondere erscheint die Einschränkung problematisch, weil:
- Angemessene Vorkehrungen laut Art. 2 UN-BRK Einzelfallregelungen sind. Eine generelle Einstufung als „immer unverhältnismäßig“ verstößt gegen Art. 5 Abs. 2 und 3 UN-BRK.
- Viele Vorkehrungen sind klein und kostengünstig: Braille-Beschriftungen, akustische Signale, Türöffner, Softwareeinstellungen. Auch sie würden von der Ausnahme erfasst.
- Bereits bestehende ex ante Pflichten aus Bauordnungsrecht, Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und EU-Recht könnten durch Unklarheiten indirekt geschwächt werden.
Unsere Forderungen:
- Das BGG muss eindeutig klarstellen, dass Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, an das Benachteiligungsverbot und die Pflichten zur Barrierefreiheit gebunden sind.
- Träger öffentlicher Gewalt müssen sicherstellen, dass Einrichtungen und Unternehmen, an denen sie nach § 1 Abs. 3 BGG beteiligt sind, die Pflichten aus dem BGG tatsächlich erfüllen und nicht nur „berücksichtigen“.
- § 7 Abs. 3 Nr. 3 Satz 2 ist ersatzlos zu streichen. Denkbar wäre demgegenüber
- in Anlehnung an die Definition in der UN-BRK die Einführung einer Klausel, dass für Unternehmen nur erhebliche bauliche Veränderungen sowie grundlegende Anpassungen von Gütern und Dienstleistungen als unbillige und unverhältnismäßige Belastung anzusehen sind – oder:
- die Einführung einer widerlegbaren Vermutung: Eine unverhältnismäßige Belastung liegt in der Regel nicht vor, solange der Aufwand einen bestimmten Anteil des durchschnittlichen Jahresumsatzes (z.B. 5 %) nicht überschreitet und die Existenz nicht gefährdet. Öffentliche Fördermittel sind mindernd zu berücksichtigen.
- Angemessene Vorkehrungen sind in einem eigenen Paragraphen mit ausdrücklicher Handlungspflicht der öffentlichen Stellen zu regeln. Die von der Benachteiligung betroffene Person ist dabei einzubeziehen.
3. Begründung unterschiedlicher Behandlungen
Der Entwurf erlaubt Ungleichbehandlungen bei „sachlichem Grund“ (§ 7a Abs. 2).
Für die besonderen Benachteiligungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG gelten jedoch strengere Anforderungen. Das Bundesverfassungsgericht verlangte in der Vergangenheit in dessen Rechtsprechung gewichtige, zwingende Gründe. Ein bloßer sachlicher Grund reicht für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht – es ist prima facie nicht nachvollziehbar, weshalb dies für private Unternehmen nicht gelten sollte. Das AGG nennt Rechtfertigungsgründe bei unterschiedlicher Behandlung aus „sachlichen Gründen“.
Unsere Forderungen:
- „Sachlicher Grund“ ist durch „zwingender Grund“ zu ersetzen.
- Zulässige Rechtfertigungsgründe sind abschließend aufzulisten.
4. Schadensersatz und Sanktionen
Der Entwurf schließt Schadensersatz gegen private Unternehmen aus (§ 7 Abs. 5). Nach § 7 Abs. 6 kann mit einer Klage der Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot lediglich festgestellt werden. Ein Verbot ohne wirksame Sanktion bleibt wirkungslos. Wir verweisen an dieser Stelle auf die Studie „Gesetzlichen Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen endlich verbessern“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR).
Der Ausschluss steht zudem im Konflikt mit dem Unionsrecht. Der European Accessibility Act fordert wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen. Deutschland riskiert ein Vertragsverletzungsverfahren.
Menschen mit Behinderungen würden schlechter gestellt als andere Personen, die zivilrechtliche Ansprüche bei Pflichtverletzungen durchsetzen können.
Unsere Forderungen:
- Der Ausschluss von Schadensersatz gegenüber privaten Unternehmen ist zu streichen.
- Das Gesetz muss Beseitigungs-, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche einschließlich Entschädigung für immaterielle Schäden vorsehen.
- Die Höhe der Entschädigung ist so zu bemessen, dass die Beeinträchtigung tatsächlich und wirksam ausgeglichen wird.
5. Zielvereinbarungen
Zielvereinbarungen nach § 5 aktueller Fassung BGG wurden bisher kaum genutzt und hatten wenig Wirkung. Vereinbarungen zwischen Betroffenenverbänden und Wirtschaftsverbänden brauchen rechtliche Verbindlichkeit.
Unsere Forderungen:
- Ergänzung von § 5 Abs. 2 um einen Punkt „Vertragsstrafe für den Fall der Nichterfüllung oder des Verzugs“.
- Ergänzung von § 5 Abs. 3 um den Satz: „Bei Nichterfüllung kann ein Antrag nach § 16 Abs. 2 gestellt werden.“
Damit werden Zielvereinbarungen zu einem Instrument mit Folgen, nicht nur zu Absichtserklärungen.
6. Verbandsklagerecht und Schlichtungsstelle
Einzelne Betroffene klagen selten. Die zeitlichen, emotionalen und finanziellen Hürden sind hoch. Das bestehende Verbandsklagerecht nach § 15 BGG wird kaum genutzt, unter anderem weil die Klagearten begrenzt sind und Feststellungsurteile wenig Wirkung haben. Auch das Verfahren zur Anerkennung für Verbände ist unnötig komplex.
Unsere Forderungen:
- Neben Feststellungsklagen müssen auch Leistungs- und Unterlassungsklagen möglich sein.
- Einführung einer Generalklausel, die alle Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot sowie gegen Barrierefreiheits- und Vorkehrungspflichten erfasst.
- Gerichtskostenbefreiung für Verbandsklagen oder Einrichtung eines Rechtshilfefonds, um das Prozesskostenrisiko für Verbände zu senken.
- Ausdehnung des Schlichtungsverfahrens nach § 16 BGG auf Streitigkeiten mit privaten Anbietern.
7. Assistenzhunde
Die bisherigen Regelungen zu Assistenzhunden haben das BGG bereits in den zivilrechtlichen Bereich geöffnet. Diese Rechte dürfen nicht relativiert werden.
Unsere Forderung:
- Klare Absicherung, dass Menschen mit Behinderungen in Begleitung eines Assistenzhundes nicht vom Zugang zu Einrichtungen und Dienstleistungen ausgeschlossen werden, sofern nicht im Einzelfall eine eng begrenzte, unverhältnismäßige Belastung vorliegt.
8. Kompetenzzentrum für Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Leichte Sprache
Die geplanten Kompetenzzentren können barrierefreie Kommunikation stärken. Insofern ist die Gründung zu begrüßen. Sie sind jedoch nur dann wirksam, wenn die Peer-Perspektive umfassend berücksichtigt wird: Menschen mit Bedarf an DGS bzw. Leichter Sprache müssen in Leitungs- und Referent*innen-Funktionen vertreten sein.
Zielführender wäre unserer Auffassung nach zudem die Trennung in zwei unabhängig agierende Kompetenzzentren. Die ISL folgt in dieser Fragestellung weitestgehend den Argumentationen in der Stellungnahme des Deutschen Gehörlosenbundes e.V., des Deutschen Schwerhörigenbundes e.V. und der tauben Community.
Unsere Forderungen:
- Gesetzliche Festlegung, dass Leitungsfunktionen in den Kompetenzzentren mit Personen besetzt werden, die in der jeweiligen Kommunikationsform lebenserfahren sind.
- Enge Einbeziehung von Selbstvertretungsorganisationen in allen Phasen des Aufbaus des Kompetenzzentrums, inklusive der Konzeptionsphase.
Abschließende Einschätzung:
Der Entwurf schützt in seiner jetzigen Form vor allem die Interessen von Verwaltung und Privatwirtschaft. Er baut die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht aus, sondern riskiert sogar Verschlechterungen gegenüber der aktuellen Rechtslage. Die Einschätzung des BMAS teilen wir nicht. Gerichte legen Gesetze aus, nicht Ministerien.
Wir fordern deshalb:
- Der Gesetzentwurf darf in dieser Fassung nicht in das Kabinett eingebracht werden. Er ist grundlegend zu überarbeiten.
- Die Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen sind eng in den Überarbeitungsprozess einzubeziehen.
- Die Privatwirtschaft ist klar zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen zu verpflichten.
- Verstöße müssen wirksam sanktioniert werden.
- Verbände brauchen starke Klagerechte und abgesenkte Kostenrisiken.
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