PM: Sozialstaatsreform ohne Inklusion ist Etikettenschwindel: 23,4 Milliarden Euro werden jährlich in menschenrechtswidrige Sonderwelten statt in echte Teilhabe investiert!

Berlin, 12. Oktober 2025. Während die Bundesregierung über Einsparungen im Sozialstaat diskutiert, investiert Deutschland weiterhin jährlich bis zu 23,4 Milliarden Euro in Sonderstrukturen, die Menschen mit Behinderungen systematisch ausgrenzen. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) fordert die Bundesregierung auf, diese Mittel endlich für den Aufbau einer inklusiven Gesellschaft umzuschichten, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention seit 2009 verbindlich vorschreibt.
Milliarden versickern in Parallelwelten
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Rund 8,54 Milliarden Euro fließen jährlich in Förderschulen, bei denen 77 Prozent der Schüler*innen ohne Abschluss bleiben. Etwa 5,59 Milliarden Euro kosten die Werkstätten für behinderte Menschen, in denen Ende 2023 rund 270.000 Menschen für durchschnittlich 224 Euro im Monat arbeiteten – bei einer Vermittlungsquote von unter 1 Prozent auf den ersten Arbeitsmarkt. Weitere 9,29 Milliarden Euro werden für stationäre Wohnformen ausgegeben, in denen noch immer über 190.000 Menschen leben müssen.
„Es ist ein Skandal, dass die Bundesregierung von Sparmaßnahmen im Sozialbereich spricht, während gleichzeitig Milliarden in menschenrechtswidrige Parallelstrukturen fließen“, kritisiert Thomas Koritz, Geschäftsführer der ISL. „Diese Gelder könnten transformativ eingesetzt werden: für inklusive Schulen, unterstützte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt und selbstbestimmtes Wohnen mit persönlicher Assistenz.“
UN-Ausschuss attestiert Deutschland Systemversagen
Bei der zweiten Staatenprüfung im August 2023 hagelte es erneut heftige Kritik vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In den Abschließenden Bemerkungen vom 3. Oktober 2023 wurde Deutschland unmissverständlich aufgefordert:
- Einen zeitgebundenen Aktionsplan zur vollständigen schulischen Inklusion vorzulegen
- Eine verbindliche Ausstiegsstrategie aus dem Werkstättensystem zu entwickeln
- Eine bundesweite Deinstitutionalisierungsstrategie mit klarem Zeitrahmen umzusetzen
Der UN-Ausschuss stellte klar: Segregation (Absonderung) in getrennten Bildungseinrichtungen, Werkstätten und Wohnheimen ist menschenrechtswidrig. Auch kleine Einrichtungen können institutionelle Merkmale aufweisen, wenn Menschen nicht frei wählen können, wo und mit wem sie leben.
Transformation würde Milliarden freisetzen
Internationale Studien und die Erfahrungen inklusiver Vorreiter zeigen: Die Umstellung auf inklusive Strukturen ist nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Allein im Wohnbereich liegt die Kostendifferenz zwischen stationären Settings (ca. 44.380 Euro/Jahr) und ambulanter Unterstützung (ca. 12.617 Euro/Jahr) bei über 30.000 Euro pro Person. Bei konsequenter Transformation könnten konservativ geschätzt 2,5 bis ambitioniert 4 Milliarden Euro jährlich freigesetzt werden.
„Das Festhalten an der Doppelstruktur ist nicht nur diskriminierend, sondern auch volkswirtschaftlich unsinnig“, betont die ISL. „Während andere Länder vormachen, wie Inklusion funktioniert, leistet sich Deutschland ein teures, ineffizientes System der Aussonderung.“
Die ISL fordert daher von der Bundesregierung und den Ländern:
- Sofortiges Moratorium: Keine weiteren Investitionen sollen in neue Förderschulen, Werkstätten oder Heime fließen
- Verbindliche Transformationspläne: Es braucht zeitgebundene Strategien mit messbaren Zielen und klaren Übergangsquoten für alle drei Bereiche
- Umschichtung der Mittel: Die jährlich 23,4 Milliarden Euro müssen konsequent in inklusive Bildung, Jobcoaching für den ersten Arbeitsmarkt und gemeindenahe Assistenzleistungen fließen.
- Partizipation sicherstellen: Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen müssen bei allen Reformschritten federführend beteiligt werden.
„Eine echte Sozialstaatsreform muss bei der Überwindung von Sonderstrukturen ansetzen“, so Thomas Koritz abschließend. „Die UN-Behindertenrechtskonvention ist kein Wunschkatalog, sondern geltendes Recht. 16 Jahre nach ihrer Ratifizierung ist es höchste Zeit, dass Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommt. Die Mittel sind da – was fehlt, ist der politische Wille zur Systemveränderung.“
Die „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL)“ ist eine menschenrechtsorientierte Selbstvertretungsorganisation und die Dachorganisation der Zentren für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen. Sie wurde nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Independent Living Movement“ gegründet, um die Selbstbestimmung behinderter Menschen auch in Deutschland durchzusetzen.
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